Eine Kurzgeschichte über das Leben in der Großstadt.
Ich laufe und komme doch nirgendwo an. Die Menschen um mich herum hetzen an mir vorbei. Wohin gehen all diese Menschen? Ihre Spur verliert sich in den verwinkelten Straßen dieser Stadt. Ich könnte hier der Liebe meines Lebens begegnen, oder dem nächsten Amokläufer in die Quere kommen. Vielleicht begegne ich auch meinem Psychotherapeuten.
Früher brauchte ich keinen Therapeuten. Früher gab es in dieser Stadt einmal eine Parkanlage. Kleine Waldflächen wechselten sich ab mit sauber angelegten Blumenbeeten, über die im Sommer Schmetterlinge und andere Insekten schwirrten. Im Grün der Bäume nisteten Amseln und Stare, manchmal hörte man sogar einen Specht klopfen. Über die Wiesen staksten ein paar Dohlen. Oft lief ich stundenlang, sinnierte über Sinn und Ziel meines Daseins, den Fortgang der Welt oder ein originelles Geburtstagsgeschenk für meine Freundin. Meine wie vom Wind zerstreuten Gedanken glichen im nächsten Moment der tiefen Stille des Sees, um den ich meine Runden drehte. Ein Paar Stockenten tauchte in dem See, umschwamm die Fontäne in der Mitte und scherte sich wenig um die neugierigen Blicke von Passanten. Menschen wie mich, die sich nach der Harmonie des Wassers sehnten und der Freiheit, zu schwimmen oder zu fliegen, wohin sie wollten.
Heute streife ich stattdessen durch Kaufhäuser, sehe mir die neuesten Angebote an und stöbere zwischen den Aktionsartikeln. Nie gehe ich mit leeren Händen hinaus.
Vor kurzem entdeckte ich einen Kaschmirpullover, dessen Schnitt mir zwar ganz und gar nicht passte, dessen Farbe mich jedoch an roten Algarvesandstein erinnerte. Meine ehemalige Freundin liebte diese Farbe. Wir wären sogar beinah an die Algarve in den Urlaub geflogen, um für ein paar Tage der Großstadthektik zu entkommen. Doch sie beendete unsere Beziehung, bevor es dazu kam und nahm nicht nur ihre Sachen, sondern gleich den gesamten Freundeskreis mit sich. Als sie die Wahl hatten zwischen aufstrebender Rechtsanwältin und hoffnungslosem Finanzbuchhalter, folgten sie meiner Exfreundin.
Die Einsamkeit einer Großraumwohnung im vierten Stock eines Mehrfamilienhauses kann die Nächte bis zur Erschöpfung dehnen. Zunächst versuchte ich, dem mit Alkohol zu entkommen. In einer der zahlreichen Bars fand ich Trost bei Wodka und Tequila. Und tatsächlich erfüllte sich der Wodka-connecting-people-Mythos.
Ich lernte neue Menschen kennen, denen es ähnlich ging wie mir. Doch war ich ihres ständigen Gejammers über ihr kaputtes Sozialleben bald überdrüssig und eine ganz neue Leere breitete sich in mir aus. Mit Alkohol war dieser nicht mehr beizukommen.
Ich besann mich, wollte mein Leben neu ordnen. Erinnerte mich an den Stadtpark, heilige Zuflucht meiner Jugendzeit. Und dachte daran, dass ich schon lange keinen echten Vogel mehr hatte singen hören. Ich hatte fast vergessen, dass es außer Tauben noch andere Vögel auf diesem Planeten gab. Rotkehlchen zum Beispiel. Wie gern hatte ich als Kind ihrem Gesang gelauscht. Damals, als ich noch Ornithologe werden wollte. Ein aussterbender Beruf in Großstädten.
Oft hatte ich mir vorgestellt, dafür aufs Land zu ziehen. Doch ausgerechnet in diesem Stadtpark traf ich meine erste Liebe. Für sie war ein Leben außerhalb des Konsumgürtels undenkbar. Also blieb ich.
Später kam eine neue Liebe und ich hatte meinen kindlichen Traum bereits vergessen.
Das Stadtleben war bequem. Meine Flamme hatte Kontakte, die mir eine Arbeit verschafften. Diese war zwar bürostaubtrocken, ermöglichte uns jedoch das Leben in unserer ersten Zweiraumwohnung.
Mit meiner zweiten Freundin lief es nicht lange gut. Zahlreiche Überstunden taten ihr Übriges. Wenn ich abends völlig erschöpft aus dem Büro kam, hatte ich gerade genug Nerven, mich vor den Fernseher zu hauen und ein kühles Pils zu genießen. Was meiner Freundin freilich wenig Genuss bereitete.
Nach der Trennung und meinem Absturz samt Läuterung hoffte ich, am Ort meiner Jugend, der einzigen Zuflucht vor dem Großstadtchaos, zu innerer Einkehr zu gelangen.
Mit Bestürzung las ich es dann auf einem dieser überdimensionalen Baustellenschilder: „Hier entsteht ein Bürogebäudekomplex im Auftrag der Stadt B.“ Vierhundert Quadratmeter Parkplatz für Angestelltenfahrzeuge. Der See war kurzerhand zugeschüttet worden; die Bäume Beton- und Glasbauten gewichen, die dreimal so hoch in den Himmel ragten.
Verdrossen kehrte ich um, setzte meinen Weg durch die endlosen Häuserschluchten fort.
Es begann mit einem einzelnen Kaufhaus auf irgendeinem der Boulevards. Reklametafeln drängten von jeder Fassade neongrell den Passanten ihre Slogans auf, dass man gar nicht anders konnte, als sich dem Konsumrausch hinzugeben.
Zunächst kaufte ich ein neues Rasierwasser. Ein gutes Gefühl, etwas für sich selbst zu tun. Vielleicht gefiel der Duft anderen Menschen und es ergab sich eine neue Bekanntschaft. Bekanntschaften ergaben sich häufiger als Freundschaften.
Das nächste waren neue Schuhe. Die alten erinnerten zu sehr an das Umherstreifen im verlorenen Paradies.
Ein neuer Anzug musste her. Dazu eine Krawatte. Oder zwei. Am besten, ich tauschte mein gesamtes früheres Leben um.
Nun ist ein Buchhalter kein Top-Manager oder Spitzen-Fußballer. Das Budget ist begrenzt. Eine Zweiraumwohnung für mich allein kostete nicht gerade wenig, weshalb die ersten Schulden bald ihre roten Spuren hinterließen.
Ich arbeitete und kaufte und kaufte und arbeitete.
Der absehbare Zusammenbruch im Büro führte mich direkt ins Krankenhaus. Ich träumte wieder davon, die Stadt zu verlassen und ein neues Leben anzufangen. Dachte an die Rotkehlchen und Stockenten, die es auf dem Land vermutlich leichter hatten, saubere Luft zu atmen. Ich beneidete sie. Sie mussten sich nicht anstrengen, um einfach sie selbst zu sein. Sie verspürten sicher nicht diese innere Leere. Ihnen genügten die Segnungen der Natur.
Als mein Chef mich am nächsten Tag mit besorgter Miene aufsuchte, überreichte er mir im Vertrauen eine Karte.
„Dieser Dr. Knef ist der Beste. Noch nicht lange in der Stadt, und schon so bekannt wie Donald Duck.“
Gleichwohl ich diesen Vergleich haarsträubend fand, nahm ich die Karte und verstaute sie sorgsam in der Innentasche meines Portemonnaies.
Es dauerte einige Tage, bis ich mich selbst davon überzeugt hatte, der Hilfe eines Seelenklempners zu bedürfen.
Zunächst vereinbarten wir telefonisch einen Termin. Den konnte ich immerhin jederzeit wieder absagen. Doch mein Chef ließ nicht locker, legte mir mehr als einmal nahe, mein Leben in den Griff zu bekommen.
Nicht viele Chefs kümmern sich derart aufopferungsvoll um ihre Angestellten. Tatsächlich gab es einfach niemanden, der den Job des Buchhalters so gewissenhaft erledigte wie ich.
Um mich innerlich darauf vorzubereiten, ging ich am Abend zuvor noch einmal die mir vertrauten Wege zu dem Ort, der einmal mein Elysium war. Und staunte nicht schlecht: Innerhalb weniger Wochen hatten sie einen kompletten Firmenpark aus dem Boden gestampft. Anwälte, Steuerberater, Bürobedarfshäuser, Chefetagen ganzer Finanzunternehmen, Ärzte und ein Bestattungsinstitut hatten sich hier angesiedelt. Ich las einige der Schilder an den Hauswänden, die in Stahl oder Messing gefasst waren. Bei einem Namen hielt ich inne: Dr. Hans-Ernst Knef. Diplompsychologe.
Disclaimer: Diese Geschichte ist frei erfunden, Ähnlichkeiten mit toten oder lebenden Menschen sowie echten Schauplätzen sind rein zufällig. Freue mich über euer Feedback! ^_^