Ich habe Claudia in Indien kennen gelernt. In dem Ashram unweit von Mumbai, in dem ich eine Woche der Transformation erfuhr. Wochen später, zurück in Wien, begegnete ich ihr abermals. Es war Balsam für mich, mein inneres Erleben mit jemandem zu teilen, der ähnliche Erfahrungen gemacht hatte. Nie werde ich das Lachen vergessen, das mir Claudia dank ihrer wohltuenden Antwort auf einen meiner Kommentare entlockt hat. Ich glaube, es war jener Moment, da ich unsere Seelenverbindung gespürt habe und mit gutem Gefühl behaupten kann, eine Freundin gewonnen zu haben.
An dem Abend erfuhr ich vieles aus ihrem Leben, doch absolut verblüfft war ich, als sie mir erzählte, sie würde auf einer Insel leben. Ich kann schwerlich meine „Fische“ Natur leugnen, die alles Wasser liebt, und entsprechend neugierig wurde ich. Eine Insel mit Namen Föhr. Ich hatte keine Vorstellung, wo auf der Landkarte sie zu finden war. Google half aus, und sobald ich das putzige Eiland entdeckt hatte, machte sich eine kindliche Aufregung in mir breit. Im hohen Norden Deutschlands also lag es, eingebettet in der Friesischen Karibik, ganz nah an der dänischen Grenze.
Claudia erzählte, dass sie mit ihrer Familie seit 18 Jahren dort lebt. Gemeinsam mit ihrem Mann wählte sie einen 300 Jahre alten Bauernhof und verwandelte ihn in liebevoller Handarbeit in ein Kleinod der besonderen Art: in Sternhagens Landhaus. Als ich die Bilder im Internet sah, kam ich ins Träumen. Mein Gott, wie schön musste es dort sein.
Claudia war zurück in ihrer Heimat, als ich ihr via Mail für die so herzliche Begegnung in Wien dankte, und im selben Zuge erwähnte, dass ich nichts lieber tun würde, als sie auf Föhr zu besuchen. Dann irgendwann einmal, in ferner Zukunft. Doch manchmal liebt das Leben Überraschungen. Ich war soeben von meiner Reise nach Paris heimgekehrt, als ich eine Einladung in Sternhagens Landhaus für den Monat März in meiner Mailbox fand. Jene Zeilen ließen mein Herz hüpfen. Ich fühlte ein bedingungsloses Ja ohne den geringsten Zweifel und in dieser meiner Begeisterung war eine Flugverbindung in den Norden bald gefunden. Ich erwartete mit Spannung und kindlicher Vorfreude frische Begegnungen mit einem mir unbekannten Teil dieser Erde und einem herzlichen Menschen.
Zwischen Wien und Sternhagens Landhaus liegen etwa 1000 km. Genauso viele wie zwischen Wien und Paris. Doch um auf die Insel zu gelangen, braucht es dreierlei Transportmittel. Einen Flug nach Hamburg, eine Fahrt mit der Nordostsee-Bahn nach Niebüll, eine kurze Fahrt mit einer Privatbahn nach Dagebüll und eine Überfahrt mit der Fähre nach Wyk. An die lustigen Namen des Nordens musste ich mich erst gewöhnen. Schließlich begleiteten sie mich eine ganze Woche lang. Am 8. März um fünf Uhr morgens zog ich los. Claudia hatte mir den Weg wunderbar beschrieben und angeboten, mich vom Fährhafen in Wyk abzuholen. Ich fand es aufregend, die vielen Etappen der Wegstrecke mit Flugzeug, Bahn und Schiff zu absolvieren. Den ersten Blick auf die Nordsee erhaschte ich um zwei Uhr nachmittags. Ich konnte mich kaum sattsehen. Trotz der Kälte des Nordens wurde mir beim Anblick der See ganz warm ums Herz. Ein Teil von mir war hier zuhause.
Eine Stunde später schloss mich Claudia in die Arme. Sie war mit ihrem rapsgelben Wagen gekommen, auf dem in zarten Lettern stand: „Fahr, wohin dein Herz dich führt.“ „Moin“ sagen hier die Inselbewohner, wenn sie einen begrüßen. Der Begriff entstammt dem Nordfriesischen, das so gut wie gar nichts mit der Deutschen Hochsprache gemein hat. Die nordfriesischen Dialekte rühren aus der alten westgermanischen Sprache und werden von den Bewohnern der Festlandküste des schleswig-holsteinischen Kreises Nordfriesland gesprochen. Also auf den vorgelagerten Inseln Föhr, Amrum, Sylt, den Halligen und auf Helgoland.
Unweigerlich fiel mir die Musik meiner Kindheit ein, als ich jener Musikkassette lauschte, die Schlager von Freddy Quinn enthielt. An kein anderes Lied erinnere ich mich so gut wie jenes von der kleinen Möwe, die nach Helgoland fliegt um einem geliebten Mädel einen Kuss zu überbringen. Ich war damals nicht älter als zehn Jahre, aber etwas in mir wusste bereits von der Sehnsucht nach Reisen, Weite und Meer. Und jetzt war ich mit einem Mal dort, wo sie zuhause waren, die Möwen, und wo sie ihre romantischen Missionen erfüllten.
Sternhagens zauberhaftes Landhaus liegt in der Buurnstraat 49 in der entzückenden Ortschaft Oevenum. Viele lebhafte Details empfangen einen im gepflasterten Vorhof und spürbar gute Energien sind hier zuhause. An meinem Ankunftstag wurde das Dach repariert. Jörn erklärte mir, dass ein Reetdach in früheren Zeiten ein Zeichen für Armut war. Heute bedarf es großer finanzieller Rücklagen, um ein Dach aus Schilfrohr auszubessern. Früher bekam man das Material vom Eiland selbst, heute wird es aus Ungarn importiert. Alle 25 Jahre wollen die Reparaturarbeiten getan werden. Ich war fasziniert von der Geschicklichkeit der Handwerker. Bis zu meiner Abreise war das Werk vollendet. Und wahrlich gelungen.
Ich wurde in ein entzückendes Zimmer einquartiert. Ein heimeliges Gelb an den Wänden wog die Kälte im Freien auf. Der petrolfarbene Teppichboden lieferte einen hübschen Kontrast zu den Rottönen auf Tisch und Bett. Die Bettwäsche barg riesige, blutrote Kirschen, mein geliebtes Symbol aus Kindertagen. Ich liebte mein kleines Reich. Während Claudia und Jörn organisatorische Dinge zu erledigen hatten, spazierte ich dick eingemummt durch die Ortschaft, bestaunte die entzückenden reetgedeckten Häuschen, die bunten Akzente in den Gärten, die die Krokusse setzten und den Puppenhauscharakter des Dorfes. Ein Graupelschauer fiel urplötzlich hernieder und verschwand so rasch wie er gekommen war. In der angebrochenen Dunkelheit brach sich auch das Abendlicht Bahn und zauberte eine Atmosphäre von Milde und Güte in die Landschaft, wie es nur die Natur vermag. Es war ein märchenhafter Anblick.
Meine Gastgeber taten alles für mein Wohlbefinden. Ich bekam Lektüre geliehen, die meinen Geist nährte und führte Gespräche, in der die Seele zuhause war. Herzlichkeit war in dem Kleinod groß geschrieben. Das spürten auch all die Gäste, die in den darauffolgenden Tagen begrüßt wurden. Ein reichliches Frühstücksbüffet lud in die freundliche Stube ein. Und nach den Erkundungen eines langen Tages konnte zwischen drei Menüs gewählt werden. Es waren sehr schmackhafte Gerichte, die ein junger Koch im Hause Sternhagen zauberte. Er war erst kurz zuvor von Jörn Sternhagen selbst ausgebildet worden. In dem Familienbetrieb packen auch die Kinder mit an. Die Aufgaben sind gut verteilt.
Mittwochs lockt das Landhaus mit den beliebten Gericht-Gedichten. Sie entstanden, nachdem der passionierte Koch und Chef des Hauses, seine Leidenschaft für Lyrik entdeckt hat. An jenen Abenden werden die einzelnen Gänge durch heiter-melancholische Poesie aufgelockert, die die Speisen, ihre Herkunft, die Insel und ihre Bewohner treffend beschreibt. Genuss pur für Ohren und Gaumen!
Föhr zählt nicht mehr als 83 km² und ist Heimat von gut 8000 Seelen. Von Jahr zu Jahr werden es weniger, die hier ihre Zelte aufschlagen oder die Lebensweise der Vorfahren fortsetzen. Teuer ist das Leben auf dem Eiland und in manchen Situationen alles andere als praktisch. Viele Höfe wurden verkauft und für den Tourismus erschlossen. Die Insel lebt davon. Jährlich kommen 70.000 Gäste und schreiben 1 Million Übernachtungen. Sommers kommen noch 100.000 Tagesgäste hinzu. Ein Drittel der Insel ist unbewohnt. Als fruchtbares Marschland beheimatet es die Felder, Wiesen und Weiden, auf denen Schafherden grasen, Korn angebaut wird und eine reiche Vogelwelt ein Zuhause gefunden hat.
Bis zur Groten Mandrenke, dem „Große Ertrinken“, im Jahre 1362 war Föhr noch keine Insel, sondern Teil des Festlandes. Die große Sturmflut überraschte damals die gesamte Nordseeküste. In der Geschichte liest man von zahlreichen Überschwemmungen und Freiheitskämpfen, vom Leben wohlhabender Kapitäne, von Walfangreisen bis nach Grönland, aber auch von tragischen Schicksalen, in denen Schiffbrüche, Unglück und Tod so manchen Seefahrer nicht wieder zurück nach Hause kehren ließ. Anfang des 19. Jahrhunderts entstand das Seebad in Wyk auf Föhr, das sogar den Dänischen König auf die Insel lockte. Im letzten Jahrhundert wanderten viele Friesen nach Amerika aus, manch einer brachte es zu Wohlstand und kehrte wieder.
All diese Erfahrungen prägten den Charakter der Menschen, die sich so oft den Kräften der Natur ergeben musste. Genau wie auf den Halligen, die sich in der Nordsee nur wenige Meter über dem Meeresspiegel erheben und bei starker Flut überschwemmt werden. Die dort lebenden Menschen bauten sich Warften, künstlich aufgeschüttete Hügel, auf denen ihre Häuser stehen und die sie vor der Überflutung schützen. Land unter heißt es, wenn die Hallig überspült wird, was bis zu zwanzig Mal im Jahr vorkommt. Wie es sich wohl lebt auf einer Hallig? Ich stelle es mir abenteuerlich vor. Und einsam.
Föhr, die grüne Insel, ist eingebettet in das Wattenmeer, das alle 6 Stunden überspült wird. Eigene Wattführungen erlauben die Durchquerung bis zur Schwesterinsel Amrum. Allerdings muss die Jahreszeit stimmen. Ich besuchte Amrum gemeinsam mit Claudia. Die kleine Insel trägt den Beinamen der großen Freiheit. Kein Wunder, dass es mich hinzog. Die Fähre benötigt eine knappe Stunde und je nach Wasserstand wird auch schon mal die Abfahrtszeit korrigiert. Von Wittdün gelangt man mittels Bus nach Norddorf. Einen Blick auf den berühmten rot-weiß gestreiften Leuchtturm ergatterten wir von einer Bushaltestelle aus. In Norddorf liefen wir lange über den weitläufigen Kniepsand und badeten das Auge in den großartigen Farbspielen von Sand und Meer. Über einen hölzernen Weg gelangten wir durch die hügelige Dünenlandschaft zurück ins Dorf, fanden ein Sonnenplätzchen am Strunwai 12 im Eiscafé Cappuccino und wählten ein paar Köstlichkeiten für die Jause. Es war ein lichtvoller Tag und kaum ein Wölkchen trübte den Himmel. Am späten Nachmittag hieß es dennoch Abschied nehmen.
In Wittdün am Fähranleger erwartete uns eine reglos stille See. Es muss ein sehr seltener Anblick auf dem Eiland gewesen sein.
Ich liebte diese Tage auf Föhr. Lange Spaziergänge am Strand in Wyk, eine Schlickpackung in der Wellnessoase des Hauptortes, ein Besuch im Friesen-Museum und eine Einkehr in „Klein Helgoland“, einem wunderbaren Café zum Verweilen und Genießen, bleiben mir unvergesslich. Alle elf Orte der Insel sind öffentlich gut zu erreichen. Zwei Buslinien teilen sich die Arbeit und laufen in gegengleicher Richtung. Sie klappern die Dörfer ab, deren Namen sich wie ein Auszug aus einer geheimnisumwobenen Sagenwelt lesen: Oldsum, Nieblum, Witsum, Utersum, Dunsum, Wrixum, Borgsum … und wie sie alle heißen. Es lohnt, ein jedes zu erkunden, doch am schönsten fand ich den Strandspaziergang in Utersum mitsamt dem Sonnenuntergang, Stellys Hüüs, ein fabelhaftes Café mit angeschlossener Töpferei in Oldsum, das Dorf Nieblum mit der evangelisch-lutherischen Pfarrkirche St. Johannis und den redenden Grabsteinen, die ganze Biografien der Verstorbenen beinhalten, sowie das Museum der Westküste in Alkersum. Eine erstklassige Austellung erfreut dort jeden Kunstliebhaber in einem wunderschönen Gebäude, das alt und neu in sich vereint.
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Und wo, wenn nicht auf Föhr ereignen sich Geschichten wie diese: Es war in Oldsum, als ich den Verlust meines Lederhandschuhs bemerkte. Er musste im Bus verblieben sein. Ich ärgerte mich über das Missgeschick und erinnerte mich erst nach längerem Hadern an die dienliche Weisheit, dass Dinge, die zu einem gehören, auch zurück kehren würden. Einmal mehr verschaffte mir das annehmende Loslassen Erleichterung. Als ich die Retourfahrt antrat, erzählte ich dem Chauffeur mein Malheur. Er holte alle wesentlichen Informationen zu Standort und Abfahrtszeit ein und versprach, sich zu melden, falls der Handschuh wieder auftauchte. In Nieblum stieg ich aus dem Bus. Keine halbe Stunde später kam der Anruf mit positiven Nachrichten. Der Bus, in dem das verlorene Teil gefunden wurde, würde in einer Stunde in Nieblum Halt machen. Ich konnte mir den Handschuh abholen.
Je kleiner der Raum, je verbundener die Menschen, desto menschlicher scheinen die Lösungen. Das habe ich auch mit Ute erlebt, die mit ihrer Freundin in Sternhagens Landhaus Urlaub machen wollte. Nachdem ihre Begleitung unglücklich gestürzt und hospitalisiert worden war, knüpfte ich mit Ute freundschaftliche Bande. Wir führten seelenvolle Gespräche, besuchten gemeinsam mit Kristina aus Hamburg die verletzte Freundin im Spital, teilten einen Spaziergang am Strand und eine gute Tasse Tee mit Blick auf die Hallig Langeneβ. Inzwischen hat mich eine freundliche Ansichtskarte aus Flemshude erreicht. Ute hatte sich gemeldet. Und wer weiß, ob sich unsere Wege nicht an anderer Stelle wieder kreuzen werden. Ihre Einladung jedenfalls hat mich sehr gerührt.
Dieser Urlaub zählt zu den besten und schönsten Überraschungen meines Lebens. Ich verdanke ihn Claudia und Jörn. Alle Qualitäten, die mir lieb und teuer sind, habe ich in Sternhagens Landhaus und auf der Insel Föhr angetroffen: Herzlichkeit, Verbundenheit, Mitgefühl, Freude, Tiefgang, Weite, Genuss, Licht, Farben und Entspannung. Und auch das Wetter war mir so unglaublich hold, dass selbst die Einwohner der Insel staunten.
Was ich fühle ist pure Dankbarkeit.
good looking baby!
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