Digitale Nomaden: Ein Lifestyle kritisch beleuchtet

in #lifestyle7 years ago (edited)

Sie sind jung, neugierig, entspannt und sie sind in Thailand. Chiang Mai ist einer ihrer Hotspots. Wie Schildkröten, die immer am selben Strand ihre Eier legen, treffen sich hier Digitale Nomaden aus allen Ecken der Erde und arbeiten an ihrem Online-Business.

Für einen Beobachter, der seit jeher einem 9-to-5 Job nachgeht, fünf Wochen Urlaub im Jahr genießt und sich auf den einen oder anderen Feiertag freut, erschließt sich der Begriff „Arbeit“ nicht unmittelbar. Ein Australier in kurzen Hosen schneidet ein Image-Video für eine Modekette, eine Deutsche sitzt mit Kopfhörern in einem sogenannten Co-Working-Space, nippt an ihrem Chai Latte und programmiert eine App für ein Logistik-Unternehmen.

Ihre 9-to-5 Jobs haben sie aufgegeben, Urlaub brauchen sie nicht und Feiertage nehmen sie nur zufällig wahr. Was der Beobachter als Alltag bezeichnet, nennen sie Lifestyle. Dieser Begriff ist die Headline ihrer Lebensphilosophie, ihrer Identität und beschreibt nichts Geringeres als einen real gewordenen Lebenstraum.

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Image is CC0 (www.unsplash.com)

Digitale Nomaden sind die neuen Hippies. Von den 68ern unterscheiden sich Digitale Nomaden insofern, als sie weitestgehend ideologiebefreit sind. Nachhaltigkeit, eine bessere Welt und vegane Ernährung sind ihnen wichtig, finden aber keine plausible Antwort auf die Frage, wie sie mit ihrer Vielfliegerei und der damit verbunden Umweltbelastung umgehen. Ein Widerspruch, dem sie sich durchaus bewusst sind, ihn aber zur Kenntnis nehmen.

Für ihr Alter sind sie überraschend zielorientiert, selbstständig und diszipliniert. Zuerst kommt die Arbeit, dann das Vergnügen. Wissend, dass dieser Lifestyle nur möglich ist, wenn regelmäßig Geld reinkommt, hauen sie wie verrückt in die Tasten ihrer Mac Books, geben ihr Geld lediglich für das Allernotwendigste aus und suchen auf ihren iPhones nach Promotens, damit die Fahrt mit Grab weniger als einen Euro kostet.

Geoarbitrage ist die Grundlage ihres Business. Harte Euro verdienen und weiche Thai Baht ausgeben. Mit umgerechnet 500,- Euro ist es in Chiang Mai möglich, seinen Lebenstraum, seinen Lifestyle zu leben. Wasser von Seven Eleven, Essen von einer der zahlreichen Garküchen neben der Strasse und ein Honorar an ein europäisches Unternehmen. So geht Leben heute.

Christine aus Tirol erzählt von ihren Ängsten, die sie als alleine reisende Frau ständig begleiten. Mit strahlenden Augen berichtet sie von einem Hund, der sie beinahe gebissen hat, um im nächsten Satz darauf hinzuweisen, dass sie noch nie zuvor derart glücklich war, wie hier in Thailand oder zuletzt in Indien.

Ein aufmerksamer Beobachter würde sich an diesem Punkt die Frage stellen, wie sie ihre Zukunft plant, Geld für eine Wohnung auf die Seite legt oder in eine Zukunftsvorsorge investiert. Christine interessieren derartige Themen nicht. Sie lebt jetzt, alles Weitere wird sich schon ergeben.

Ihre Naivität ist ansteckend inspirierend, beinahe provokant. Befreit von Zukunftsängsten, Stress und winterlichen Temperaturen einerseits und angereichert durch Mut, einem starken Willen und unerschütterlichem Optimismus andererseits, verspricht dieser Lifestyle die ultimative Erfüllung. Wie ein Kind, das an seiner Lego-Burg bastelt und dabei in seiner eigenen Welt versinkt, spielen auch Digitale Nomaden ein Leben, das nur im Hier und Jetzt funktionieren kann.

Für jemanden, der täglich in seiner Winterjacke in der U-Bahn zu seinem 9-to-5 Job hetzt, die reinste Verhöhnung. Barfuß im Sommerkleid und an einem Pineapple-Shake nippend, via Skype mit dem Geschäftspartner in Europa das weitere Vorgehen besprechen, das ist doch keine Arbeit.

Arbeit muss organisiert, koordiniert sein, darf nur bedingt Spaß machen und ist in der Regel dafür bestimmt, die Träume eines anderen zu verwirklichen, sicher nicht die eignen. Ein Digitaler Nomade lebt bereits seinen Traum, organisiert, koordiniert und lebt auf einem Spaßniveau, das an die siebte Fahrt mit einer auf Facebook gehypten Achterbahn erinnert.

Einige von ihnen haben es geschafft

 
Sie jetten in der Business Class von einem herrlichen Strand zum Nächsten. Geld verdienen müssten sie nicht mehr, da sie sich allerdings bewusst ein passives Einkommen aufbauen wollten, kommt immer noch mehr rein. Sie waren am Beginn des Hypes als Blogger dabei, werden als absolut glaubwürdig in der Szene respektiert. Sie geben ihre Erfahrungen weiter, weil Geben und Nehmen bei Digitalen Nomaden selbstverständlich ist und verdienen damit tausende Euros. Wöchentlich.

Steuern zahlen sie keine in Panama. Aus ihren Heimatländern haben sie sich längst abgemeldet und nutzen jede erdenkliche Möglichkeit, die unterschiedliche Staaten an Annehmlichkeiten bieten. Illegal ist das alles nicht, über Moral kann man trefflich streiten.

Vor Jahren haben sie in Kryptowährung investiert, weil sie nicht nur offen sind für neue Trends, sondern selbst der Trend sind. Damit erreichten sie ihre finanzielle Unabhängigkeit, seither tun sie erst recht was sie wollen.

Sie sagen, dass sie das in ihrem früherem Leben niemals erreichen hätten können. Sie mussten raus in die Welt. Nicht um reich zu werden, sondern um zu sehen, was es da draußen zu erleben gibt. Das Geld ist eine Art Sahnehäubchen auf die Torte, die schon vorher süß schmeckte.

Ein neuer Kapitalismus als Lifestyle

 
Digitale Nomaden sind bestimmt nicht weniger kapitalistisch eingestellt als ihre bürositzenden Geschäftspartner.

Immer und immer wieder kommt das Thema Lifestyle zur Sprache. Ihr höchster Anspruch, der sich in diesem Begriff manifestiert, ist gleichzeitig auch ihre größte Angriffsfläche, sofern man sie und ihre Lebensweise in Frage stellen möchte.

Mit ihrer Definition von Lifestyle heben sie sich bewusst von den 9-to-5 Leuten ab, stellen sich in jeder Hinsicht über sie. Sie machen das, in dem sie über „normale Jobs“ reden, als wäre das etwas Verwerfliches. Etwas, das nur Menschen tun, die nicht mutig genug sind, ihren Rucksack zu packen und wie sie in die Welt rausgehen um dort ihr Glück zu versuchen.

Gleichzeitig halten sie sich aber gerne an Orten auf, die möglichst nicht überrannt sind. Würden nun vermehrt Angestellte ihre kurzen Hosen und Laptops einpacken und zum Beispiel hierher nach Chiang Mai kommen, wäre es schnell vorbei mit diesem Club, der sich selbst unbewusst einen elitären Anstrich gibt.

Taucht man vorurteilsfrei in die Welt der Digitalen Nomaden ein, braucht es einige Zeit um zu verstehen, was diese Leute antreibt und warum sie die Widersprüche, mit denen sie leben, nicht erkennen.

Ein Engländer bringt es schließlich auf den Punkt: Wir sind nicht aus einem System ausgestiegen um die Welt zu retten. Wir sind Teil eines Systems, das den Bach runter geht und schaffen uns unser Eigenes.

Seine Freundin formuliert es anders. „Unsere Eltern mussten hart arbeiten, um die Familie durchzubringen und dabei auf Vieles verzichten. Wir wollen auch hart arbeiten, aber nicht für materielle Dinge, sondern um unseren eigenen Lifestyle zu schaffen.“

Da ist er wieder, der Lifestyle. Sie deshalb nicht ernst zu nehmen wäre ein Fehler. Sie sind mehr oder weniger erfolgreiche Unternehmer, nehmen ihr Schicksal somit selbst in die Hand. Jammern, wie sie es früher in ihren Angestelltenjobs taten, verabscheuen sie. Digitale Nomaden suchen so lange nach Wegen, bis sie den Richtigen für sich gefunden haben. Sie arbeiten dort, wo andere Urlaub machen, weil sie den Spieß umdrehten und an Urlaubsorten leben, wofür andere arbeiten.

Diese noch relativ junge Szene wächst rasant. Sie entwickeln kontinuierlich weiter, was einmal als Home-Office bezeichnet wurde. Das „Home“ ist die Welt, das „Office“ ein Laptop und ein Zugang zum Internet.

Das Internet ist ihre Lebensader. Steht dieses mangels Infrastruktur nicht zur Verfügung, sind sie wie ein Fisch im Trockenen. Thailand sei auch deshalb ein Paradies für Digitale Nomaden, weil die Einheimischen ebenso süchtig nach dem digitalen Datenstrom sind. Kostenloses Wifi an allen Ecken, eine Sim-Karte bei Seven-Eleven für den Preis einer Wurstsemmel mit Gurkerl. Unlimitiert, schnell und günstig. Das wäre auch eine passende Beschreibung für die Lebensweise eines Digitalen Nomaden.

Am Abend sitzen sie zusammen und beantworten sich die immer gleichen Fragen, die bei einem Kennenlernen gestellt werden. Woher kommst du, was machst du, wo warst du schon und wo gehst du als Nächstes hin. Fehlt nur noch, dass jemand ein feierliches Kumbaya anstimmt und ein Altar für ihren Gott geschmückt wird.

Ihr Gott, das ist Timothy Ferris. Sein Buch „Die 4-Stunden-Woche“ ist ihre Bibel und liefert das Fundament eines jeden Digitalen Nomaden. Zugegeben, nach dieser Lektüre juckt es jeden unter den Fingernägeln. Seine Beschreibung des modernen Arbeitens stellt so ziemlich alles in Frage, was uns die derzeitige Arbeitswelt bietet. Es geht nicht darum, nur 4 Stunden wöchentlich zu arbeiten, obwohl das möglich ist und bereits zahlreich gelebt wird.

Es geht darum, aus jenem System auszusteigen, das irgendjemand mal als normal oder als Standard definierte. Die Arbeit steht nicht im Mittelpunkt, sondern dem nachzugeben und zu folgen, was einen an dieser Normalität fertig macht.

Ferris zeichnet ein Bild, auf dem jeder in der Hängematte an einem herrlichen Strand liegen und sich ein Business aufbauen kann, das genügend passives Einkommen generiert. Hab Spaß, arbeite so viel oder so wenig du willst und mach was dich glücklich macht. Eine Art „Vater unser“ für eine Generation, die vor allem anderen an eines glaubt: An sich selbst!

Christine aus Tirol sucht noch. Ihr angespartes Geld und die Unterstützung ihrer Mutter reichen noch für etwas mehr als ein Jahr. In dieser Zeit will sie ihren Weg finden, reisen, Leute kennen lernen. Herausfinden, wie sie ihren Beitrag für eine bessere Welt leisten kann und wo sie leben möchte.

Bestimmt nicht die schlechteste Herangehensweise, um seinen eigenen Lifestyle zu finden.

@burnoutside

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