Wie entsteht eine Lerngeschichte?

in #kita6 years ago (edited)

 

Für eine Lerngeschichte sind drei Schritte erforderlich:

1. Schritt: Die Beobachtung – Wahrnehmen, was das Kind genau tut  

In Beobachtung steckt das Wort Beachtung. Die Erzieherin beobachtet das Kind für ca. 5 bis 10 Minuten und seine individuelle Art und Weise, sich die Welt anzueignen. Sie schaut dem Kind aufmerksam bei einer selbst gewählten Aufgabe im Alltag, vornehmlich im Freispiel zu. Damit ist es möglich, die Interessen des Kindes zu erkennen.

Praxistipp: Sie versucht dabei möglichst viele Details mitzuschreiben oder sie filmt die Sequenz. Für das Filmen und Fotografieren zur Dokumentation sollte im Vorfeld die Erlaubnis der Eltern eingeholt werden.

Idealerweise erkennt die Erzieherin beim Kind den magic moment . Dieser Moment ist eine für das Kind faszinierende und intensive Situation mit Menschen und/oder Dingen. Das Kind ist dabei komplett im eigenen Tun vertieft und vergisst die Außenwelt. Diese besondere Begegnung lässt sich im Alltag eines Kindes entdecken, wenn wir Zeit und einen Blick dafür haben, innehalten und sie festhalten. Das erfordert die differenzierte Wahrnehmung für Situationen, in denen Lernen und Forschen der Kinder stattfinden. Das ist überall möglich und geschieht überall: Auf dem Außengelände beim Sandspiel gelingt es dem Kind zum ersten Mal einen Tunnel zu bauen, der nicht einstürzt. Im Gruppenraum macht ein Krippenkind die ersten Schritte und ist begeistert über das eigene Tun. Der bisher eher zurückhaltende Linus (siehe Abb. 1.) singt vor seiner Kindergartengruppe einen englischen Popsong. Er hat große Freude daran im Mittelpunkt zu stehen und genießt diesen besonderen Moment.

Praxistipp: Hilfreich ist ein vorbereitetes farbiges Klemmbrett mit Kugelschreiber, dass an einem gut erreichbaren, festen Platz in der Gruppe jederzeit und kurzfristig von der Fachkraft eingesetzt wird. Auf dem Klemmbrett ist ein leerer Beobachtungsbogen befestigt. Bewährt hat sich der Bogen aus dem Buch von Hans R. Leu. Außerdem ist es empfehlenswert, die Eltern vor der Einführung von Lerngeschichten durch einen Brief zu informieren. Nach den ersten Erfahrungen ist eine Informationsveranstaltung für die Eltern wichtig, um zu wissen, wie mit ihren Kindern gearbeitet wird und welchen Part sie dabei übernehmen können.

Aber auch die Kinder sollten informiert, einbezogen werden. Je nach Altersgruppe kann den Kindern anhand des Klemmbretts erläutert werden, welche Bedeutung es hat. Kindgerecht wird der Begriff „Beobachtung“ den Kindergarten- und Hortkindern erläutert, bevor die Beobachtungen in der Gruppe starten. Da der Dialog mit dem Kind ein fester Bestandteil des Verfahrens ist, ist ein Gespräch mit den Kindern darüber unabdingbar.Eine Unterhaltung mit dem Kind kann auch gleich im Anschluss an die Beobachtung erfolgen. Die pädagogische Fachkraft kann damit überprüfen, ob sie alles Bedeutsame Kind notiert, verstanden hat und ergänzt ggf. Kommentare des Kindes dazu. Dadurch wird die Lerngeschichte noch lebendiger und das Kind ist direkt an der Entstehung beteiligt.

2. Schritt: Auswertung der Beobachtung  

Nicht jede Beobachtung eignet sich für eine Lerngeschichte. Es ist die Aufgabe der Erzieherin, die für das Kind Bedeutsame aus der Fülle von Beobachtungen auszuwählen. Keine, der regelmäßig durchgeführten Beobachtungen ist jedoch umsonst, denn jede hilft weiter, das Kind zu verstehen, besser kennenzulernen und liefert Informationen über die individuellen Kompetenzen, Lernwege, Herausforderungen und Interessen.In aller Ruhe wertet die Erzieherin ihre Beobachtung anschließend aus. Sie analysiert sie nach den fünf Lerndispositionen:

  • Interessiert sein
  • Engagiert sein 
  • Standhalten bei Herausforderungen 
  • Sich ausdrücken und mitteilen 
  • An einer Lerngemeinschaft mitwirken und Verantwortung übernehmen.

Praxistipp: Empfehlenswert dafür ist der Analysebogen aus dem Buch von Hans R. Leu. Weitere Formulare sind bei der Umsetzung von Lerngeschichten nicht erforderlich. Erfahrungsgemäß hindert zu viel „Papierkram“ die Erzieherinnen an einer unkomplizierten und kurzfristigen Umsetzung. Das hier dargestellte vereinfachte Verfahren nach Haas entlastet die Erzieherin von einer Vielzahl von Arbeitsblättern und bringt sie schneller ans Ziel.

3. Schritt: Schreiben der Lerngeschichte  

Der dreiteilige Aufbau einer Lerngeschichte:

Teil 1 – Zusammenfassung einer Beobachtung

Was habe ich beobachtet? In kurzen und für das Kind verständlichen Sätzen wird die Geschichte aufgeschrieben. Sie sollte für das Kind nachvollziehbar sein, d.h. ein roter Faden ist erkennbar. Sie sollte so lang wie nötig und so kurz wie möglich sein. Die Beobachtung wird sachlich beschrieben. Die Beschreibung beinhaltet, den beobachteten Lernprozess des Kindes. Die Geschichte sollte für das Kind aufbauend und ermutigend sein, d.h. es wird von den Lernerfolgen erzählt. Die Lerngeschichte bewirkt die Sprachförderung, u.a., wenn das Kind seine Geschichte von der Erzieherin vorgelesen bekommt. Voraussetzung dafür ist eine entsprechende Qualität in der Schriftsprache, die den individuellen Entwicklungsstand des Kindes berücksichtigt, aber es auch fordert. So ist es beispielsweise nicht zuträglich, wenn in Kindersprache geschrieben wird. Dadurch erhält die Sprachentwicklung des Kindes keinerlei neue Impulse. Zu besserem Verständnis für das Kind sollte die Beobachtung in der Gegenwartsform geschrieben werden.

Teil 2 – Erkennen der Bedeutung

Welche Art von Lernen ist in dieser Beobachtung erkennbar? Der Lernbereich wird explizit benannt und beschrieben. Hilfreich ist, sich die Lernbereiche im Orientierungsplan zur Unterstützung dazu zu holen, um die Beobachtung zuzuordnen. Häufig treffen unterschiedliche Bereiche zu. Hier ist es wichtig zu erkennen, um welches Thema es hier für das Kind geht. Was ist das Wesentliche und Bedeutsame? Bei Linus (siehe Kasten) ist besonders, dass er all seinen Mut zusammennimmt, um selbstbewusst vorzusingen. An diese Stelle gehört für das Kind die wichtige Wertschätzung und Anerkennung für den Lernprozess und -erfolg. Besser als ein pauschales Lob oder „toll“ sind auf die Sache bezogene Attribute. Welche der fünf Lerndispositionen sind erkennbar?

Teil 3 – Antworten

Wie reagiere ich auf die Situation? Welche Erkenntnisse entwickeln sich aus der Beobachtung? Welche sinnvollen, realistischen und passenden Möglichkeiten und Gelegenheiten sollte ich dem Kind als nächsten Schritt anbieten? Es geht dabei um eine Aktivität und entsprechendes Material, um das Kind weiter in seiner Entwicklung zu unterstützen. Der Vorschlag sollte dem Kind nicht nur versprochen, sondern bei Interesse des Kindes auch zeitnah umgesetzt werden. Was lernen wir aus dieser Situation? Ist unser Materialangebot herausfordernd und passend für die Interessen und Persönlichkeiten der Kinder, in seiner Vielfalt, Menge, Anzahl, Erreichbarkeit und Auswahl?

Praxistipp: Ein Foto veranschaulicht eine Geschichte für die Leser, ist aber kein Muss. Für das Kind ist bedeutsam, dass es die Geschichte erkennen und sich damit identifizieren kann. Im Krippenalter sind Fotos sehr hilfreich, denn das Kind erhält somit die visuelle Unterstützung, um sich zu erkennen und zu erinnern.

Lerngeschichten haben eine Außenwirkung, denn das Kind heftet sie im Portfolio ab und die Eltern lesen sie. Daher sollten Lerngeschichten möglichst frei von Rechtschreib- und Grammatikfehlern sein.

Praxistipp: Bewährt hat sich, besonders zu Anfang, das Schreiben der Geschichten am Computer. Änderungen und Ergänzungen, z.B. durch die Hinweise der Kollegin oder des Kindes selbst, können unkompliziert eingefügt werden.

Fazit

Lerngeschichten können aus einer Kindertagesstätte eine Bildungsstätte machen. Sie verändern die Haltung der pädagogischen Fachkräfte und wirken positiv auf Eltern und die gesamte Einrichtung. Das Verfahren bereichert die Arbeit und ist ein Beitrag zur Professionalisierung der Erzieherinnen. Es verbessert die bedeutsame pädagogische Qualität in der Arbeit mit Kindern: Sie wird gezielter, an den Interessen und Kompetenzen der Kinder orientierter. Der Einsatz lohnt sich! Wenn die Erzieherin in die strahlenden Augen des Kindes schaut, nachdem sie ihre Geschichte vorgelesen hat, weiß sie vom Zauber der Lerngeschichten und möchte weitermachen.

Literatur

Haas, Sibylle (2012): Das Lernen feiern. Lerngeschichten aus Neuseeland. Verlag das Netz: Weimar Berlin.Leu, Hans R. u.a. (2007): Bildungs- und Lerngeschichten: Bildungsprozesse in früher Kindheit beobachten, dokumentieren und unterstützen. 2. Auflage. Verlag das Netz: Weimar Berlin. 

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