Heute schreibe ich mal Widerworte. Zugegeben, das mache ich selten. Aber zu manchen Themen kann ich nun mal nicht die Klappe halten. Die jüngsten EU- Vorhaben in Bezug auf Mobilität gehören zu diesen Themen. Kathrin (@ygoob) veröffentlichte zwei Posts dazu, es entspann sich eine kurze Diskussion, die in folgenden Fragen mündete:
- Wen meinst Du mit "deutliche Schnittmenge der Bevölkerung"?
- Das noch nicht alle Voraussetzungen für eine flächendeckende E-Mobilität gegeben sind, ist klar, daher wurde das Gesetz auf 2035 datiert, um zu diesem Zeitpunkt soweit zu sein. Was genau meinst Du also?
- Inwieweit ist der "Wegfall" der Verbrenner eine Einschränkung der individuellen Mobilität?
- Von welchen Forderungen und Regelungen wird man sich verabschieden müssen?
Ich hatte versprochen, in einem Post zu antworten. Hier ist es.
Wenn man etwas intensiver durchdenken möchte, lohnt sich meist ein Blick in die Vergangenheit. Insbesondere dann, wenn es dergleichen Zustände schon mal gab. Ich bin da im Vorteil, denn ich komme aus dem Osten Deutschlands (nicht bekannt für überbordenden MIV und breites PKW- Angebot) und bin alt genug, das selbst erlebt zu haben. Noch dazu aus einer Gegend, die man heute als tiefste Provinz bezeichnen muss. Kleinstadt, damals 4500 Einwohner. Meine Mutter war Trafoschlosserin. Sie arbeitete ihr Leben lang 500 m entfernt vom Haus. Oma war Verkäuferin, 200 m Arbeitsweg. Vater war Steinspalter mit wechselnden Arbeitsorten. Die Schule war in Sichtweite, Einkaufsmöglichkeiten von Aspik bis Zement gab es im Ort. Die Arbeit war also (außer Vater) zu Fuß oder mit Rad erreichbar, die Schule auch, die Verwaltung im Ort hat im Alltag ausgereicht (300 m). Und musste doch mal was transportiert werden, gabs halt einen kleinen Umweg mit dem Betriebs- Kfz. Es gab sogar Züge und Busse, die meist pünktlich fuhren. Mit einem Bahnhof, dessen Wartehalle beheizt war und wo man Gepäck aufgeben und abholen konnte. Und trotz dieser, ökologisch betrachtet eigentlich paradisischen Zustände wurden im Laufe der Zeit Kfz angeschafft. Moped, Motorrad, PKW. Im Falle des Vaters vorrangig, um zum Steinbruch zu kommen. Ich ein Moped, damit ich Abitur und Nebenjob auf die Reihe bekomme. Außerdem bot es die Möglichkeit an Stellen zu gelangen, an die man sonst nicht oder nur mit riesigem Zeitaufwand gekommen wäre. Und Zeit spielte auch im relativ gut ausgebauten DDR- ÖPNV eine Rolle. Selbst als ich in den 80-ern bei Berlin gearbeitet habe, bin ich mit dem Moped die 300 km nach Hause gefahren. Über die Autobahn, das war damals noch möglich. Das war nicht nur billiger, sondern es hat auch jede Menge Zeit gespart.
Und nun vergleichen wir dieses "damals" mal mit der heutigen Situation an gleicher Stelle. Das Leben in Deutschland findet nicht nur in innerstädtischen Bereichen statt. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt ja außerhalb dieser (Antwort auf [#1]).
Mitte der 90-er bin ich nach Studium in Dresden und 15 Jahren Arbeit im heutigen Speckgürtel Berlins wieder in meine Heimatregion gezogen. Drei Ortschaften östlich meines Geburtshauses. Die Arbeitsstelle 16 km entfernt, drei Schichten, rollende Woche, unregelmäßige Endzeiten. Dazu teils Rufbereitschaften. Eine Menge Arbeitsmittel notwendig. Arbeitgeber: Staat. Ohne das es jetzt episch auszubreiten: Zu keiner Schicht (entweder Anfangs- oder Endzeit oder beide) ÖPNV. Und hätte es ihn gegeben: 80 min statt 20 min. Einfacher Weg. Ohne Berücksichtigung der evtl. Wartezeit bei Rückfahrt. Letzte Arbeitsstelle vor Pensionierung: 25 km, ehemalige Kreisstadt. ÖPNV: 110 min, Kfz 35 min. Außer in der Ferienzeit. Da gar nicht. Und ich wohne nicht im Forsthaus im Wald, sondern annähernd im Stadtzentrum. Fazit: Im Jahr hätte mich das ohne Berücksichtigung von Dienstreisen etc rund 420 h Lebenszeit gekostet. Das ist der Gegenwert von 2,5 Monaten Arbeitszeit. Wenn es nutzbaren ÖPNV gäbe. Das ist - in Bezug auf Arbeit - heute der Ist- Zustand. Man vergleiche das vorsichtig mit dem oben Geschriebenen. Und es betrifft eben nicht nur die Arbeit. Es gibt im Leben ja noch anderes. Die drei Säcke Zement müssen herbeigeschafft werden oder Bauholz. Einkäufe müssen ein mal die Woche aus dem 10 km entfernten Markt herbeigeschafft werden. Grünschnitt wie Sperrmüll muss weg. Sachen müssen zum Wertstoffhof (nein, wird hier nicht abgeholt, Straße zu eng). Manche müssen zum Arzt und haben nicht vor, diese 10 km einfache Strecke zum Inhalt eines Tagesausfluges zu machen. Manche Menschen haben auch Freizeitinteressen, denen sie gern nachgehen würden. Ohne MIV wird das nicht funktionieren, denn sinnvolle Alternativen sind weder vorhanden noch in Sicht.
Bislang gab es ein sicher nicht umfassend zufriedenstellendes, aber in Masse funktionierendes System der Teilhabe. Wer sich keinen Neuwagen leisten konnte (und das waren nicht wenige), griff halt auf Gebrauchte zurück. Die gab es in allen Ausführungen und fast zu jedem Preis. So kam auch derjenige, der nicht viel Geld dafür ausgeben konnte oder wollte, zu einem PKW, der seinen Job machte. Es macht ja offensichtlich keinen Sinn, eine Kettensäge, paar Ketten und einen Benzinkanister im tiefliegenden neuwertigen 50.000 Euro- PKW in den Wald zu fahren. Oder im Bus. Sinnbildlich für alle entsprechenden Anwendungsfälle. Und von denen gibt es außerhalb der Großstadt viele. Nun ist es aber zunehmend so, dass sich durch verschiedene Faktoren die Preise auf dem Gebrauchtmarkt in ungeahnte Höhen geschraubt haben. Das wird sich auch nicht mehr ändern, denn im unteren Neuwagen- Preissegment haben sich heute die Preise teils verdoppelt. Erschwerend kommt hinzu, dass man den Betrieb der Verbrenner natürlich weiter verteuern wird. Anders ist ein E- Auto in seiner derzeitigen Verfasstheit nun mal nicht in Masse durchsetzbar. So schließt man allerdings Menschen von wesentlichen Teilen individueller Mobilität aus. (Antwort auf [#3]
Bleibt die Frage, welche Regeln man denn ändern müsse [#4]. Jede Menge. Es ist nun mal nicht möglich, Regeln und Anforderungen von heute mit Mobilität von 1975 in Übereinstimmung zu bringen. Arbeitszeitverordnung, Zumutbarkeitsregeln, Regelung der Bereitschaftszeiten und Dienstreisen, Neuregelung des Behördenzugangs ohne persönliches Erscheinen, Klärung, wie die freiwilligen Feuerwehren + THW in der Fläche funktionieren sollen, Dezentralisierung von Betreuung und Schule, Digitalisierung von Archiven, usw usf. Die Chance, dass irgend etwas davon in den nächsten 10 Jahren auch nur annähernd geklärt wird, tendiert gegen Null.
Der Verkehrswende droht damit die gleiche Entwicklung wie der Digitalisierung oder der Energiewende. Nur mit noch größeren Schäden für die Gesellschaft. Dabei geht es nicht vorrangig darum, dass heute Ladesäulen fehlen oder mit Kohlestrom bedient werden. Vielmehr geht es wohl darum, dass der Plan auf Annahmen und Versprechen beruht. Man müsse durch ein Tal der Tränen, um das goldene Zeitalter zu erreichen. Irgendeiner wird schon bald irgendwas erfinden. Das bedingt viel Vertrauen. Und wenn es in Deutschland etwas immer weniger gibt, dann ist es genau das. Vertrauen. Und ja. Dafür hat Politik und Industrie auch sehr viel getan. Es macht keinen Sinn, immer das Gleiche zu tun und auf andere Ergebnisse zu hoffen.
Erst einmal muss ich mich entschuldigen, dass ich erst heute antworte. Ich bin die letzten Tage umgezogen und hatte gehörig Stress...
Ich habe Deinen Artikel wirklich gerne gelesen...
Ich selbst wurde auch auf einem Dorf groß. Zu meiner Schulzeit fuhren Busse ab 5 Uhr bis 24 Uhr stündlich in die Stadt. 20 Jahre später gibt es hier nur noch Busverbindungen zu den Stoßzeiten: 5 bis 8 Uhr, 12 bis 13 Uhr und 17 bis 21 Uhr. Soll heißen: nach dem sich immer mehr Menschen Autos leisten konnten/kauften, kürzte man suggestive den ÖPNV. Das hängte z.B. meine Oma ab, die nie einen Führerschein gemacht hatte.
Bei Deiner Antwort auf Frage 1 muss ich widersprechen: 77 Prozent der Menschen leben in Städten oder Ballungsgebieten und nur 15 Prozent in Dörfern mit weniger als 5.000 Einwohnern.
Ich sage gar nicht, dass das System des Verbrenners in den letzten Jahrzehnten nicht funktioniert hätte - für die breite Masse. Dennoch ist diese Art der Fortbewegung eine sehr individuelle und private Weise von A nach B zu kommen. Und ich bin der Meinung, wir, vor allem auch in Deutschland, haben es in den letzten Jahren verpasst, zum Einen auf den E-Zug aufzuspringen und zum anderen andere wichtige Adern wie ÖPNV, Car-Sharing und Zug auszubauen. Das Eine kam in den letzten Jahren in anderen Ländern weiter, bei uns aber nicht, das Zweite wurde sogar zurückgefahren. Für mich, der falsche Weg.
Deine Antwort auf Frage 4 hat mich etwas ratlos zurückgelassen. Leider kann ich E-Mobilität nicht mit Digitalisieren von Archiven in Zusammenhang bringen. Was Feuerwehr, Schulbusse, Krankenwagen, etc. angeht, so soll es übrigens über 2035 hinaus eine Sonderregelung geben, die Verbrenner weiterhin erlaubt. Auch beschließt das neue Gesetz ja nicht das Aus des Verbrenners, sondern das Aus von Neuwagen-Verkäufen von Verbrennern. Wer vor dem Stichtag einen Verbrenner hat, darf den ja auch weiterfahren.
Eigentlich hat vielmehr das Nicht-stattfinden der Energiewende erheblichen Schaden angerichtet. Hätten wir, wie bereits vor vielen Jahren beschlossen, die Windenergie vorangebracht, wären wir heute nicht in einer prekären Lage - wie z.B. in Bayern. Und je länger wir diese Wende hinauszögern, desto größer wird der wirtschaftliche und ökologische Schaden sein.
Weil Du den wunderbaren Spruch Einsteins ansprichst, ist es daher nicht an der Zeit, neue Wege zu gehen? Althergebrachtes zu verabschieden? Ganz im Sinne es Mathematikers: "Wahnsinn ist, immer das Gleiche zu tun, aber ein anderes Ergebnis zu erwarten."
Freue mich auf Deine Antwort.
Danke für die Rückmeldung. Hat leider auch bei mir länger gedauert.
Zu den Zahlen gibt es auch andere Studien. Ich hatte die Untergrenze benutzt, die die tatsächlichen Verhältnisse wohl am besten beschreibt. Selbst innerhalb der Stadtgrenzen HH's wurde bei der Vorstellung des 15-Minuten- Konzeptes ja betont, in den Außenbezirken (also noch innerhalb der Stadtgrenzen) ginge des freilich nicht. Und da war vom Speckgürtel noch gar nicht die Rede. Das korreliert mit der erneuten Feststellung von statista, dass eine Mehrheit selbst in Großstädten auf den eigenen PKW setzt. Dazu passt auch aktuell: 68% aller 6100 Befragten nutzt nie ÖPNV (Civey).
Die Sache mit # 4 lässt sich einfach erklären, sinnbildlich für alle anderen solcher Fälle. Es spart schlicht Fahrten (egal womit) und ist effektiver. Das mögen im Fall Archive vielleicht einige hundertausend km im Jahr sein. Im Fall Führerscheinumtausch sind es Millionen. Passbilder machen lassen, mindestens 2 x zur Führerscheinstelle. Mit dem E- Auto hat das zu tun, weil die heutigen Entwicklungen darauf hindeuten, das es zum Luxusgut wird und es tatsächlich darstellbare Alternativen nicht gibt. Sie sind auch nicht in Sicht. Wohin die Entwicklung bei E- Autos geht, kann man ja derzeit gut beobachten. Das ist, was man nur als völlige, aber gewollte Fehlentwicklung bezeichnen kann. Das liegt nicht am E- Auto, sondern an dem, was man daraus gemacht hat. Das wird sich in den nächsten 10 Jahren nicht bessern, denn es ist von den Akteuren so gewollt. Mal ganz davon abgesehen, dass es in den nächsten 10 Jahren weder ertüchtigte Stromnetze in erforderlichem Umfang noch bedarfsgerecht bereitstehende EE noch flächendeckende Mobilfunknetze geben wird. Nichts deutet darauf hin. Genau so wenig nährt die Annahme, in diesen 10 Jahren wären erforderliche Alternativen verfügbar. Carsharing ist heute schon ein defizitäres Geschäft zu horrenden Preisen. Und das in Ballungsgebieten. Das Zeitalter des Zuges in der Fläche scheint vorbei, während er für die Verbindung von Ballungszentren immer mehr Bedeutung gewinnt. Und selbst der wird nicht bedient. Am ehesten würde es gelingen, den ÖPNV zu verdichten. Allerdings auch nicht ansatzweise im erforderlichen Umfang.
Der Verbrenner wird nicht verschwinden, er wird zum Luxusgut. Schon heute. Sein Betrieb wird derart verteuert, dass sich eine breite Masse ihn nicht mehr leisten kann. Das ist die Reinkarnation dieses: Der Betrieb ist nicht insolvent, er produziert nur nichts mehr. Und es ist das Strickmuster, was schon die Energiewende ins Chaos geführt hat. Es geht also doch darum, immer das Gleiche zu tun und überzeugt zu sein, dass es dieses Mal auch ganz bestimmt klappt. Auch dazu könnte man Einstein zitieren: "Planung ersetzt Zufall durch Irrtum".
Was, wie? Widerworte vom friedliebenden @dietertd? Das kann ja wohl nicht sein! :-)
Auch wenn ich mich - wie du ja weißt - durchaus der 'Elektroautofraktion' zugehörig fühle, freut es mich, dich hier engagiert wie zu besten Politopia-Zeiten zu sehen.
Mit Interesse werde ich deine Diskussion mit @ygoob verfolgen: 'Alter, weißer Mann' diskutiert mit "Woman, Feminist, Environmentalist, Climate Protector", das könnte spannend werden.
Ob ich, zu allem Überfluss, auch noch selbst einsteigen werde, hängt davon ab, was mir meine knapp bemessene Zeit erlaubt (vorerst lasse ich 'meine Position' mal durch @ygoob vertreten).
Wir brauchen doch nur ne Menge Fantasie und harte Planwirtschaft um endlich durchzuziehen!
@tipu curate
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Die harmlosere Erklärung wäre: wieder einmal Ideologie vor gesundem Menschenverstand.
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