Manchmal spielt mein Pferd Melek ein kleines Spiel mit mir. Er bleibt einfach stehen, wenn ich ihn führe. Aber das bedeutet nicht, dass er nicht weiter gehen will. Ich glaube, es hat damit zu tun, dass ich nicht bei der Sache bin. Meine Gedanken sind irgendwohin abgewandert, ich hab mich quasi verloren.
Wenn das passiert, ist es völlig sinnlos, am Führstrick zu ziehen. Ein 500 Kilo schweres Pferd läßt sich davon nicht beeindrucken. Er nimmt den Kopf hoch und sieht mich von oben an. Wenn ich nicht sofort reagiere, sind wir in einem Lockdown.
Wenn ich aber mit meinen Gedanken zurückkomme, mich wieder auf mein Pferd und das "wohin" konzentriere, den Strick locker lasse und einfach gehe, nimmt er entspannt den Kopf runter und geht mit.
Woher weiß mein Pferd, was ich denke? Ich habe keine Ahnung. Diese Beschreibung ist natürlich eine Interpretation, die schwer zu beweisen ist. Aber es passiert immer mal wieder, und die Lösung ist immer die gleiche. Sobald ich mich mit meinen Gedanken auf das konzentriere, was ich gerade tue, löst sich die Situation auf.
Pferde sind Herdentiere. Sie können nur gemeinsam überleben, denn in ihrer natürlichen Umgebung gibt es viele Gefahren. Innerhalb der Herde gibt es eine Rangordnung, die festlegt, wer mehr und wer weniger zu sagen hat. In einer größeren Gruppe ist meist eine ältere Stute dafür verantwortlich, die Gruppe zu führen. Der Leithengst hat die Aufgabe, für die Sicherheit der Gruppe zu sorgen. Er hält auch fremde Hengste fern, die sich für seine Stuten interessieren.
In der Herde gibt es also eine Aufgabenteilung und eine Hierarchie. Die Herde braucht die Leittiere, weil sie besondere Fähigkeiten haben. Kämpfe um die Macht sind eher selten. Solange die Herde funktioniert, werden die Rollen von allen akzeptiert. Ein Leittier braucht nicht zu kämpfen, es setzt seinen Anspruch bereits durch sein Auftreten und seine Körpersprache durch.
Wenn ich mein Pferd führe und damit die Rolle eines Leittieres übernehme, dann muss ich diesen Anspruch auch verkörpern. Ansonsten wird mein kleiner, aber sehr dominanter Wallach aufsässig. Weshalb sollte er sich jemand anvertrauen, der nicht bei der Sache ist? In seinem Verhalten steckt auch immer leise Versuch, mir die Führung abzunehmen. Deshalb erhalte ich immer wieder eine wichtige Lektion: bleib präsent!
Pferde können einen Artgenossen in kürzester Zeit einschätzen. Diese Fähigkeit wenden sie auch auf Menschen an. Sie lesen unsere Körpersprache und passen ihre Reaktionen sofort an.
Deshalb halten Pferde dem Menschen einen Spiegel vor. Es ist diese Fähigkeit, die wir in "Pferdeseminaren" für Unternehmen oder in Coachings nutzen. Zu der hohen Sensibilität für die Wirkung oder Ausstrahlung eines Menschen kommt noch dazu, dass Pferden einige typisch menschliche Eigenschaften fehlen. Pferde sind weder höflich noch rücksichtsvoll, sie verstellen sich nicht und machen niemand etwas vor. Sie sind immer direkt und ehrlich. Sie spiegeln zurück, was sie im Moment erleben. Dabei reagieren sie nur auf den Kern eines Menschen. Statussymbole haben für sie keine Bedeutung, aufgesetztes oder antrainiertes Verhalten macht sie misstrauisch oder löst sogar eine Fluchtreaktion aus.
Auch Menschen, die keinerlei Erfahrung mit Pferden haben, verstehen sehr genau, was der Vierbeiner ausdrückt. Da ein Pferd das aber nicht verbal tut, ist es viel einfacher für Menschen, die Impulse aufzunehmen. Das Lernen und Erleben geschieht über alle Sinne. Es ist sehr persönlich und deshalb wesentlich nachhaltiger als ein verbales Feedback, das ein menschlicher Coach oder eine Vorgesetzter anbieten könnte.
In Seminaren mit Pferden erleben Menschen, wie sie auf andere wirken. Sie lernen aber auch, wie kleine Signale oder Veränderungen des eigenen Verhaltens die Reaktionen ihres Gegenübers beeinflussen.
Das Konzept der "Pferdeseminare" für Unternehmen gibt es weltweit. Es ist 1997 in Deutschland entstanden. Die Anbieter haben sich 2004 zur EAHAE (Infos) zusammengeschlossen, der European Association of Horse Assisted Education. Da sie inzwischen auf 5 Kontinenten arbeitet, wurde daraus die International Association of Horse Assisted Education, die aber das erste "E" beibehalten hat.
Über die EAHAE wurde es auch möglich, internationalen Unternehmen weltweit vergleichbare Seminare anzubieten und dabei den besonderen Qualitätsanspruch des ursprünglichen Konzepts zu erhalten. Gleichzeitig ist es faszinierend zu sehen, wie ein Konzept in Ländern mit ganz unterschiedlichen Kulturen adaptiert wird.
Die Sprache der Pferde ist international.
Danke für den sehr informativen Artikel.
Es ist immer wieder erstaunlich, wie gut es zwischen Mensch und Tier klappt, wenn man seine Rolle ihm gegenüber erfüllt.
Im Falle meines Hundes ist es ja recht ähnlich. Als Rudeltier sieht er mich als Alpha. Bin ich nicht bei der Sache, ist das für den Hund irgendwann Anlass, seine Stellung in Frage zu stellen.
Meine Hunde haben, wenn ich mal länger nicht richtig bei der "Sache" war gerne getan, was sie eigentlich nicht durften. Zeugs geklaut, mein Bett illegal benutzt, oder etwas kaputt gemacht.
Dieses Verhalten wird oft als "respektlos" oder aufsässig beschrieben. Aber Respekt ist ein menschliches Konzept, das für Tiere zu komplex ist. Wenn mein Pferd versucht, die Führung zu übernehmen, dann handelt er nur nach seinem Überlebensinstinkt. Ein unaufmerksames, nicht fokussiertes Leittier? Das kann doch nur schiefgehen! Pferde stehen in ihrem Verhalten übrigens so zwischen Katzen und Hunden. Sie brauchen und suchen die Gemeinschaft, aber die persönliche Treue eines Hundes zeigen sie nicht in der Form. Da sind sie pragmatischer, wie die Katzen. Bringst du's? Wenn nicht, dann hab ich jetzt hier das Sagen und du darfst hinterherlaufen.
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