Zehn Punkte: Lagerdenken, Experten, Kritik & die Ilusion des Netzes

in #deutschland8 years ago (edited)
  1. Deutschland-Experte?
    Bloß weil gerade Deutschland in aller Munde ist und ich deutsch-stämmig bin, muss ich nicht den Deutschland-Experten spielen und mich darüber profilieren. Als politischer Mensch spreche ich ohnehin über Politik, so entschied ich vor Jahren nicht vollends im Klischee enden zu wollen. Deshalb kommentierte ich dieses "Deutschland" kaum. In den sehr seltenen Fällen, wo ich das tat, versuchte ich ausgewogen, konstruktiv, kritisch zu sein.

  2. Das Lagerdenken
    Ich bin weder pro dies, noch pro das. In meiner Person und Arbeit vereine ich mehrere Identitäten und Ideale, die in allen politischen Lagern Deutschlands (aber nicht nur dort) auf die eine oder andere Art und Weise anecken, wenn nicht gar fundamental widersprechen.

  3. Die Solidarität
    Statt in Lagern denke ich in Solidaritäten. Ich verstehe mich solidarisch mit unterdrückten Minderheiten, dazu zählen ethnische, religiöse und andere – überall auf der Welt. Das friedliche Miteinander mit unterschiedlichen Minderheiten ist mir ein wichtiges Anliegen. Das ist aber ein Prozess – denn so sehr man diese Ideale für sich selbst setzt, Solidarität bedeutet im ersten Schritt: Zuhören, zuhören, zuhören. Lernen, lernen, lernen. Und einsehen, dass man in bestimmten Kontexten zu den Privilegierten gehört – und den Luxus hat, Themen und Missstände nicht verfolgen zu müssen, ignorieren zu können.
    Dabei müssen Solidaritäten immer wieder neu ausgehandelt werden. Auf dem Weg dahin, werden wir anecken, verletzt sein, vielleicht verletzen. Aber letztlich müssen wir uns diese Aushandlungsprozesse zugestehen. Daran arbeiten.

  4. Die Reifezeit
    Ich habe limitierte Kapazitäten. Kann nicht auf jede Mail sofort reagieren, zu allem Stellung beziehen und meine Meinung kundtun. Denn, das wird jetzt einige überraschen, ich bin ein Mensch. Keine Institution. Ich habe keinen Stab an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die für mich das Weltgeschehen dokumentieren und zusammenfassen, damit ich mir eine differenzierte Meinung bilden kann, die ich dann nach Außen kommuniziere.
    Tatsächliche, eigene Meinung braucht Zeit. Sie muss reifen. Und die nehme ich mir, denn ich habe Ansprüche an mich. An das, was ich in die Welt setze.

  5. Außerhalb der Kreise
    Ich bewege mich außerhalb von Parteien, außerhalb von organisierten Religionsgemeinschaften, außerhalb von ideologischen Denkstrukturen & jedweden Gruppierungen. Ich folge keiner Meinung, gehöre keinem Lager an – sondern versuche aus der Menge an Informationen meine eigene Position zu bilden. Das bedeutet: Viel Zeit, viel Energie und viel Aufwand.

  6. Innerhalb der Kreise
    Ich rede mit verschiedenen Gemeinschaften, um die Werte, die ich vertrete, auch dorthin zu tragen. Um einen Diskurs mitzugestalten. Damit Veränderung stattfinden kann. Missstände behoben werden können. Nur das erscheint mir konstruktiv. Nur das erscheint mir konsequent. Denn lediglich Kritik aus der Ferne zu äußern, ist keine Lösung.

  7. Meine Schwäche, mein Weg
    Bei jeder Kritik, die ich äußere, versuche ich stets konstruktiv zu sein. Auch Teil der Lösung zu sein, eine Lösung anzustoßen. Das war immer mein Ideal, mein Ziel. Das Ausruhen auf dem Sessel der Kritikerin lag und liegt mir nicht. Meine Schwäche ist: Ich mag Harmonie. Und darauf ziele ich bei all meiner Kritik, Diskussion und Problematisierung ab.
    Das mag manch einer naiv finden. Manch einer nicht kämpferisch genug, schwach, dumm, unmännlich, etc. Mit den Jahren habe ich das Selbstbewusstsein gewonnen, zu wissen, dass diese Schwäche mich ausmacht und – wenn auch nicht in jedem Kontext – meine Stärke geworden ist. Ich respektiere und ehre all jene, die für die gute Sache einen der vielen anderen Wege einschlagen. Aber, dieser Weg ist meiner.

  8. Die Differenzen
    Auf diesem Weg bemühe ich mich darum Diffamierungen einzelner, (öffentliche) Lästereien, Kritik unter der Gürtellinie, grundlose/überzogene/vermeintliche Kritik zu umgehen, mich nicht auf dem Rücken derer zu profilieren, die weniger Stimme, Privilegien und Einfluss haben als ich, mich von der Wolke unserer beizeiten giftigen Internetdiskussionskultur und dem Gesinnungskult fernzuhalten.

  9. Das Glück im Streben
    Ich weiß, dass meine Ideale lediglich Ideale sind. Dass die Umsetzung dieser ein Weg ist. Und weil der Weg das Ziel ist, weil die Haltung nicht nur am Inhalt, sondern auch im Ton, dem Paket, deutlich wird, habe ich mich dafür entschieden auch auf dem Weg zum Ziel glücklich zu sein. Mein Glück nicht auf das Ziel zu verschieben.

  10. Die Illusion
    Das Internet suggeriert uns, Schnelligkeit sei eine Qualität. Lautstärke sei Relevanz. Und Kritik an und für sich eine Tugend.
    Ich habe gelernt, dass dem nicht so ist. Es ist nicht einfach, diesem Wissen im Internet treu zu bleiben. Und ich weiß, dass viele Tausende andere es ebenso versuchen. Das Internet kann unser hässlicher Spiegel sein. Vorbote dessen, was uns womöglich offline erwarten. So wie wir ihn unerträglich machen, können wir ihn erträglich machen. Respektvoll, friedlich, kritisch, differenziert, reflektiert.

Den oben stehenden Text hat Kübra Gümüşay für ihr Blog Ein Fremdwörterbuch geschrieben. Fast. Denn ich habe fünf Worte verändert (das Original):

Türkei -> Deutschland
türkeistämmig-> deutschstämming
Muslima- > politischer Mensch
Islam -> Politik
unfeministisch -> unmännlich

Nur fünf Worte zu ändern hat ausgereicht, damit ich einen Text, den eine Person mit gänzlich anderem Hintergrund als ich (Frau, Feministin, Muslimin, türkei-stämmig) in meinem eigenen Blog als meine eigene Position (ja fast schon als Manifest) zum gleichen Thema publizieren kann.

Das Gleiche könnte ich - so hat mich die Erfahrung gelehrt - kaum mit den Texten tun, die überwiegende Mehrheit meiner männlichen, christlichen, deutsch-stämmigen Mitmenschen verfassen würden, wenn sie sich in diesem Kontext äußerten. Jene Mehrheit, die blitzschnell von Währungsexperte auf Flüchtlingsexperte, von Nationaltrainer auf Strafrechtsjurist, von Straßenbau-Spezialist auf Türkeikenner umschulen kann, wenn die aktuelle Nachrichtenlage es erfordert.

Wenn es einen Beleg dafür gibt, dass die so gern behaupteten religiösen, kulturellen, nationalen oder gar biologischen Identitäten völliger Unsinn sind, dann dieser Text.

Natürlich schreiben auch andere Menschen Texte, bei denen ich eine ähnlich hohe Übereinstimmung feststelle. Und ein paar von denen sind sogar männlich, christlich und deutsch-stämmig. Aber solche Texte kommen eben auch von matriarchalen jüdischen Japanern und transsexuellen buddhistischen Afrikanerinnen (um ein paar Klischees zu missbrauchen).

Und das Internet und Social Media sind - trotz einiger weniger erfreulicher Aspekte, die es auch sichtbar macht- eine fantastische Möglichkeit, all diese wundervollen und interessanten Menschen zu treffen und sich mit ihnen auszutauschen. Wie Kübra Gümüşay, die ich bisher nicht persönlich getroffen habe. Sondern dank Twitter kenne, durch das ich erst auf sie und dann auf ihren tollen Text aufmerksam geworden bin und die mir freundlicher Weise erlaubt hat, ihren Text zu "verfremden".