[Auf dieser Reise benutze ich die Goldmann-Taschenbuch-Ausgabe, deren Cover zwar die fünf Farbstreifen der Originalausgabe enthält, ansonsten jedoch wenig mit der gebundenen Fassung gemein hat. Sehen Sie mir also bitte nach, wenn die hier angegebenen Seitenzahlen nicht mit denen Ihrer Erstausgabe übereinstimmen, die Herr Kracht vermutlich in der Woche des Erscheinens signiert hat.]
"Ich denke an den Streit mit Alexander und wie es dazu kam, und dann fällt mir Varna wieder ein. Varna, das war so ein Mädchen damals, mit dem sich Alexander angefreundet hatte. Varna ging immer auf Vernissagen, wurde überall eingeladen und kannte so ziemlich jeden in diesen furchtbar heruntergekommenen Szene-Bars, von denen ich ja vorhin schon erzählt hatte" (67).
"Also, Varna ging jeden Abend aus, und wenn sie nicht ausging, dann ging sie auf Vernissagen. So eine Person war das. Ich war ein paarmal mit auf diesen Vernissagen, zusammen mit Alexander" (67).
"Das Interessante daran war, daß Varna einen nie länger als 34 Sekunden beachtete. Dann nahm sie einen Zug aus der Bierflasche, die sie immer auf Vernissagen mit sich herumtrug und die nie leer zu sein schien, wirklich nie, und verschwand in Richtung irgendeines Künstlers, der sich absichtlich schlecht anzog. So mit Cordoverall, häßlichen, dicken Turnschuhen, fettigen Haaren und Arbeiterkappe. Diese Künstler hatten manchmal Farbspritzer auf ihren Turnschuhen, aber die meisten arbeiteten eh mit Installationen und hatten nicht viel zu sagen. Wenn man mal genau hinhörte, dann hatten die eigentlich überhaupt nichts zu sagen" (67-68).
"Jedenfalls rannte Varna immer auf diese Menschen zu, und man hatte das Gefühl, daß es ihr furchtbar peinlich war, vorher 34 Sekunden lang bei mir gestanden zu haben, weil ich rahmengenähte Schuhe trage und mich weigere, über Kunst zu diskutieren oder über irgendwelche Independent-Bands, die im Spex erwähnt werden, oder über den aufkeimenden Rechtsradikalismus, die braune Scheiße, wie Varna immer sagte" (68).
"Noch schlimmer war es, wenn sie über Hip-Hop redete. Hip-Hop, das wäre die neue Punk-Musik, die echte Auflehnung und so weiter, in einem fort, ohne Ende" (68).
"Alexander hatte an Varna einen Narren gefressen. Ich weiß auch nicht mehr, wie das kam. Alexander war doch sonst immer so ein kluger Kopf. Er war in Varna verliebt. Er schrieb ihr lange Briefe von seinen Reisen durch Afghanistan und Gott weiß wo hin, wahrscheinlich längere Briefe als er mir damals schrieb. Er rief sie an, und wenn er wieder in Deutschland war, dann verabredete er sich mit ihr in Elendskneipen, in denen Menschen mit langen Koteletten herumstanden und Bier aus der Flasche tranken und jeden musterten, der zur Tür hereinkam, um sich dann wieder gelangweilt über ihr Bier zu beugen und mit ihren noch blöderen Freunden das letzte Public-Enemy-Konzert zu besprechen oder den letzten Text von Diedrich Diederichsen" (68-69).
"Dabei fällt mir ein, daß ich noch nicht erzählt habe, warum Varna Varna heißt. Das ist wegen der Stadt am Schwarzen Meer, in der sich ihre Zonen-Eltern kennengelernt haben. Als die Eltern dann in den Westen kamen, wurde Varna auf der Schule immer gehänselt wegen ihres Namens. Die Kinder haben immer gesungen und sie gepiesackt im Schulhof, und daher hat Varna ihren Knacks weg, daß sie immer beliebt sein will, auf Vernissagen und in Szenekneipen und so" (69).
"Das Wichtigste damals war, daß ich Varna nicht akzeptiert habe. Ich habe ihr nie zugehört, obwohl ich sonst eigentlich allen zuhöre, weil ja alles irgendwie interessant ist. Alexander hat das nicht wahrhaben wollen, daß ich seiner großen Liebe nicht zuhöre" (69).
"Varna war so billig, so vorhersehbar, so liberal-dämlich, daß es einfach nicht möglich war, sich ihre blöden Ideen anzuhören, ohne auszurasten und sie zu treten oder ihr zumindest aufs Maul hauen zu wollen. Und das konnte ich ja nun nicht, weil Alexander mein Freund war, also habe ich einfach nicht hingehört und manchmal etwas völlig Konträres gesagt, nur um irgend etwas zu sagen, aber das paßte dann nicht in die Unterhaltung hinein, die meistens um so Sachen ging wie: Daß man ja eigentlich doch die Grünen wählen müsste, oder Man müsse ein Beispiel setzen und kein Auto mehr fahren, nach der ultra-dämlichen Devise Think globally, act locally, und so weiter" (69-70).
"Ich hab dann immer so Sachen gesagt, daß man zum Beispiel eine Einlaufanstalt in jedem Bundesland bauen müßte und daß da jeder, der sich aufregt über politische Verhältnisse, einen polizeilich verordneten Einlauf bekommen müsste" (70).
"Varna hat dann immer gesagt, ich wäre ja ein Nazi und vollkommen unpolitisch, und ich wollte sie dann eigentlich immer fragen, wie das denn gehen soll, gleichzeitig Nazi und vollkommen unpolitisch zu sein, aber das habe ich sie nicht gefragt, weil ja Alexander dabei war, und der hat Varna doch so sehr geliebt" (70).
"Das Ganze ist immer weiter eskaliert, ich konnte nicht anders. Die Frau war einfach zu dumm. Irgendwann kam es zum richtigen Streit, und Alexander hat sich für Varna entschieden. So war das" (70).
Alle Zitate stammen aus: Kracht, Christian (1997): Faserland. München: Goldmann.
Alle Fotos wurden vom Verfasser dieses Blogs mit einer Fujifilm X100S aufgenommen.
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Schade, @stefanmoe, das hab ick verpasst im Urlaub. Schönen Gruß vom Bulgarien-Fan und Varna-Verliebten an den Autor dieses schönen Artikels!!
@leroy.linientreu: Vielen Dank! Hast du dich damals auch für Varna entschieden? :-)
Ich habe mich DAMALS immer für die entschieden, die sich für mich entschieden hat. Da war ich schmerzfrei. Namen kann ich mir eh nicht merken. Weißt Du: Die Frauen suchen uns aus, nicht umgekehrt. :-
Das stimmt! Männer sind evolutionstechnisch die Opportunisten der Spezies! Namen merken wäre trotzdem ein feiner Zug.
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