Meisner-Technik für Autoren

in #deutsch6 years ago (edited)

Wie bringst du deine Charaktere dazu, dass sie mit dir reden?

Ich muss offen gestehen, dass es mir wirklich schwerfällt, Dialoge zu schreiben. Gerade beim Drehbuch zu „Frogs“, das naturgemäß aus viel wörtlicher Rede besteht, wird es mir immer wieder vor Augen geführt. Es ist kompliziert, den richtigen Ton zu finden. Alles ist ein Spagat. Man möchte auf der einen Seite originell und literarisch wertvoll, auf der anderen Seite aber auch realistisch und auf keinen Fall floskelhaft klingen. Man möchte die Story voranbringen, ohne die Handlung den Charakteren auf die Stirn zu schreiben oder manchmal möchte man den Leser auch einfach nur auf die falsche Fährte zu locken.
Viel zu oft erwische ich mich dabei, wie ich versuche, die Erwartungen der potenziellen Leser zu erfüllen. Ich versuche, dem Charakter meine Worte zu verpassen, in der Hoffnung, dass es die sind, die das Publikum an der Stelle hören möchte.

Wie gebe ich dem Charakter seine eigenen Gefühle und seine eigene Stimme?

Das ist natürlich einfacher, wenn du dich an einer realen Vorlage orientieren kannst, die du kennst und fragen kannst. Jedoch wird auch diese dir in den meisten Fällen nicht offen und ehrlich alles verraten, was du wissen willst und dem ein oder anderen meiner Charaktere in „Froschperspektive“ möchte ich auch gar nicht wirklich begegnen.
Jeder entwickelt seine eigenen Technik, wie er Dialoge besser gestalten kann und wie man Charaktere dazu bringt, dass sie in den richtigen Worten zu einem sprechen. Wenn ich meine Herangehensweise zusammenfassen müsste, würde ich sagen:

 „Act your story! Never design feelings!“ 

Was heißt das? „Act your Story“ soll nicht etwa bedeuten, dass man vorgibt etwas zu sein, dass man etwas spielt, sodass ich bewusst bei dem englischen Begriff „to act“ geblieben bin. Der berühmte Schauspiellehrer Sanford Meisner definierte „acting“ einst als:

„The ability to live truthfully under given imaginary circumstances.“ 

Sanford Meisner - On Acting

Die Definition macht schon auf dem ersten Blick deutlich, dass „acting“ wenig mit dem Begriff „Schauspiel“ oder dem, was man sich landläufig darunter vorstellt, zu tun hat. „Wahrhaftig leben“ sind die beiden entscheidenden Worte. Es geht also nicht darum, sich etwas auszudenken oder etwas vorzugeben, was man eigentlich nicht ist, sondern sich ehrlich – dem ersten Impuls folgend – auf eine Situation einzulassen.

Aber was heißt das für den Autor? Wie kann er die Meisner-Technik für sich nutzbar machen?

Zunächst ein ganz banales Beispiel. Meine Hauptfigur in „Froschperspektive“ sitzt in einer Szene mitten in der Nacht am Westbahnhof in Wien und weiß nicht wohin. Jetzt hätte ich mich an den Schreibtisch setzen, mir eine heiße Tasse Tee machen, die Heizung aufdrehen und mir die Szene ausdenken können. Ich war schon so oft am Westbahnhof, dass das Ergebnis sicher akzeptabel gewesen wäre, zumindest für jemanden, der noch nie in Wien war. Ich hätte dann der Szene noch Attribute verpassen können wie „kalt“ und „dunkel“, aber das genügt nicht, um Authentizität einzubringen. Es bleibt dann eben nur ein kalter Bahnhof bei Nacht und es ist keine echte Szene am Wiener Westbahnhof. Ein akzeptables Ergebnis kann uns also nicht reichen.

 „Don’t fake it, when you can make it.“ 

Was spricht also dagegen, sich nachts selbst mit einem Notizblock an den Westbahnhof zu setzen? Es ist nur ein Beispiel, dass sich auf alle Orte übertragen lässt. Mir ist klar, dass nicht jeder über den Wiener Westbahnhof schreiben möchte und falls doch, sich nicht jeder nachts dorthin setzen kann. Aber jeder Bahnhof wäre für diese Szene besser gewesen als mein bequemer Bürostuhl am Schreibtisch. Denn nur draußen hat man die Möglichkeit, auf echte Menschen, Gerüche oder andere Eindrücke zu treffen, die einem auf dem Silbertablett präsentiert werden, wenn man nur mit ein wenig Offenheit hingeht.

Das Prinzip ist also klar. Was ist aber, wenn wir unserem Setup noch echte Menschen hinzufügen?

„Never design feelings!“

Als für mich feststand, dass ich „Froschperspektive“ fertig schreiben möchte, habe ich versucht, Situationen über die ich schreiben wollte, so realistisch wie möglich zu machen. Und welche Erfahrungen sind realistischer als die eigenen? Davon abgesehen hat man ohnehin keine anderen.

 „Es war noch nie meine Stärke, aus den Fehlern anderer zu lernen.“ – Froschperspektive 

Deshalb habe ich versucht, echte Situationen künstlich zu erzeugen. Das führte eine Zeit lang so weit, dass ich jede, vor allem negative Stimmung direkt für mein Schreiben ausgenutzt habe. Wenn ich beispielsweise wegen Kleinigkeiten von der Arbeit genervt war, habe ich mich auf dem Heimweg reingesteigert und es an meinen Mitmenschen ausgelassen. Ich habe so recht authentische Szenen schreiben können, indem ich einfach gerade an der Szene im Plot gearbeitet hatte, die zu meiner Stimmung passte. Es ist auf jeden Fall eine spannende Erfahrung, doch die Konsequenzen brauche ich ja nicht näher zu erläutern.
Doch die wichtigste Erkenntnis aus dieser Zeit war, dass man sich Gefühle eben nicht ausdenken kann. Dass man nicht überlegt, was du oder dein Publikum erwarten, wie sich der Charakter in der Situation fühlen könnte. Ich denke, es ist wichtiger, den Leser „truthfully“ zu überraschen, als seine Erwartungen zu erfüllen, damit die Story nicht platt wird. 

Meisner-Technik für Autoren

Doch wie kann man jetzt authentische Situationen erschaffen, ohne dabei sein Privat- und Berufsleben zu ruinieren?

Letztes Jahr hatte ich das Glück, einige Meisner-Schauspielkurse bei Steven Ditmyer aus New York belegen zu können, der selbst seine Ausbildung am Neighborhood Playhouse bei Sanford Meisner gemacht hat. Nicht nur, dass Steven ein echt cooler Typ ist, er ist auch ein fantastischer Schauspiellehrer. Ich würde bei weitem nicht so weit gehen, mich selbst als Schauspieler zu bezeichnen, aber es war auch etwas anderes, was ich für mich aus den Kursen mitgenommen habe und was mir beim Schreiben seither hilft.

Steven hat uns eine einfache Übung gezeigt, die mir zum emotionalen Durchbruch verhalf und mir einen Zugang zu jeden Bereich meiner Gefühlswelt gab, den ich bisher vermisst habe.

Such dir einfach eine Person, die dir nahesteht, dir etwas bedeutet. Jetzt überlege dir Umstände, die deiner Szene, in der sich dein Charakter befindet, am nächsten kommen. Stell dir vor, wie du dieser Person den Traum ihres Lebens erfüllst oder wie du ihr vielleicht deine letzten Worte am geöffneten Sarg mitteilst. Alles dazwischen und darüber hinaus ist möglich und jetzt rede mit dieser Person unter diesen Umständen. Rede wirklich. Laut. Stell dir vor, diese Person steht vor dir und du kannst ihr alles sagen und dein Herz ausschütten. Sprich es laut aus, rede mit ihr. Erzähle ihr von deiner Freude, von deiner Trauer, von deinem Leid. Wenn du die erste Hemmschwelle überwunden hast, kommen die Gefühle und die Worte von ganz allein. Lass sie wirken, schreib sie nicht gleich auf. Lass dich wirklich mit allen Sinnen darauf ein und du wirst merken, wie die Szene ganz allein zu dir kommt.

Das mag peinlich klingen. Ist es aber gar nicht, solange man es nicht im Bus macht. Es ist nicht weniger komisch als sich Geschichten mit erfundenen Charakteren auszudenken und diese aufzuschreiben, damit sie von anderen Menschen gelesen werden. Wenn wir ehrlich („truthfully“) miteinander sind, dann redet jeder hin und wieder mit sich selbst. Diese Übung hat auch weitere Vorteile. Man kann realistische Situationen erzeugen, ohne dass man sich und sein Umfeld damit belastet. Darüber hinaus kommt man auch leicht aus solchen Situationen wieder heraus. Gerade wenn es um belastende Situationen geht, ist es gut zu wissen, dass man die betreffende Person direkt anrufen könnte, um sich selbst zu überzeugen, dass alles nur eine Übung war, die sich aber echt anfühlte.

Im Ergebnis werden Szenen entstehen, die sich authentischer anfühlen, da man sie in gewisser Weise erlebt hat. So hat man die Chance, einen großen Teil seiner Persönlichkeit in die Geschichte einzubringen. So füllt man nicht nur Seiten, sondern man findet die richtigen Emotionen, die viel mehr wert sind, als dem Charakter leere Floskeln aufzudrängen.  

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Hallo Seb,
bereits beim ersten Lesen war mir klar, dass ich deinen Post ganz fein säuberlich auf die Seite ziehen muss, da es bei dem einen Mal durchlesen mit Sicherheit nicht bleiben wird.
Daher, falls nachher einige Passagen verschwunden sein sollten - ich habe sie mir ausgeliehen. :)
Gruß, Wolfram

Hallo @w74,

danke für deinen lieben Kommentar. Nimm dir was du brauchst. =)
Viele Grüße aus Wien.

Ich lagere bemerkenswerte Dinge gerne neben meinem Lieblings-Sofa. Immer griffbereit und nie verstaubt. Und von Wien bis Zagreb dürfte es für alle Informationen auch kein Jetlag geben.