εὕρηκα!
In den 1840er Jahren besuchte der deutsche evangelische Theologe Konstantin von Tischendorf die Stadt Istanbul. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die älteste Bibelhandschrift der Welt ausfindig zu machen, aber er hegte auch ein Interesse für Mathematik und so fiel ihm während seiner Suche in der Bibliothek des Metochion des Heiligen Grabes ein Gebetbuch in die Hände, das offensichtlich ein Geheimnis verbarg. Es war nur schwach zu erkennen, doch untrüglich schien ihm, das auf den Seiten früher einmal etwas anderes gestanden hat.
Diese Art Bücher nennt man Palimpsest. Wenn ihr z.B. etwas mit Bleistift geschriebenes wieder wegradiert, liegt bereits eines vor euch. Ab dem 5. Jahrhundert wurden Schreibmaterialien rar und dementsprechend teuer. Papyrus war kaum zu kriegen und Pergament, höchst begehrt, unerschwinglich. So ging man zu der Praxis über, bestehende Bücher die man für entbehrlich hielt, wiederzuverwenden. Man löste alte Bindungen, wusch und schabte Blatt für Blatt soweit ab, bis die Tinte nicht mehr zu sehen war und beschrieb die Seiten neu. Ein Recycling also. Teils ging man auch mit Zitronensäure zu werk, um noch gründlicher löschen zu können. Aber selbst dann, es bleiben Spuren zurück...
Tischendorf hielt also ein solches Palimpsest in den Händen, ein Buch, das vormals von anderem Inhalt gewesen ist. Er konnte nicht wirklich verstehen was da stand, doch erkannte immerhin, das es sich um Mathematik handeln und von Bedeutung sein muss. Und so tat er etwas im Grunde sehr verwerfliches - er riß unerlaubt eine Seite heraus und nahm sie mit. Letztlich kein Unglück, wie sich später noch herausstellen sollte.
Kehren wir zurück nach Istanbul. Lange nach dem Tode Tischendorfs machte sich 1899 ein griechischer Forscher daran, einen Katalog mit Manuskripten der Bibliothek des Metochion zusammenzustellen. Auch ihm war aufgefallen, dass das Gebetbuch ursprünglich andere Texte enthielt und so nahm er in seinen Katalog einige für ihn lesbare Fragmente daraus mit auf, ebenfalls unwissend, worum es sich eigentlich handelt. Kurze Zeit später bekam Johan Heiberg, ein dänischer Mathematikhistoriker, Einsicht in den Katalog und er staunte nicht schlecht, als ihm gewahr wurde, das es sich um Arbeiten des bedeutendsten Mathematikers der Antike handeln muss: Archimedes!
Heiberg reiste 1906 nach Istanbul, um den Palimpsest zu studieren und fand Bestätigung darin, das es verloren geglaubte Werke von Archimedes enthielt. Am 16. Juli 1907 berichtete sogar die New York Times über die sensationelle Entdeckung. Es wurde Heiberg zwar verwehrt, das Buch aus der Bibliothek zu entfernen, aber es abzufotografieren war erlaubt. In den folgenden Jahren machte er sich daran, eine Transkription aller für ihn noch erkennbaren Informationen anzufertigen, die er so nach und nach in einer Archimedes-Gesamtausgabe veröffentlicht hat. Dass der Palimpsest weiter untersucht werden musste, war völlig klar. Doch erst neuere, bis dato noch unbekannte Technologien könnten sichtbar machen, was mit bloßem Auge nicht zu erkennen ist.
Odyssee
Aber das Gebetbuch verschwand! Zwischen 1920-22 wurde es aus der Bibliothek des Metochion entwendet, vermutlich im Zuge des Griechisch-Türkischen Krieges, und tauchte erst 1932 im Besitz eines Pariser Antiquitätenhändlers wieder auf. Der hatte es zu verkaufen versucht, war mit den Geboten aber nicht zufrieden und abermals verschwand das Manuskript. Es war der unsachgemäßen Behandlung des Geschäftsmanns Marie Louis Sirieix zu verdanken, das es durch die Lagerung in seinem Keller ernsthaft Schaden nahm. Irgendwann nach 1945 war es in seinen Besitz gelangt und moderte nun vor sich hin. Davor allerdings muss es einem Fälscher in die Hände gefallen sein, der religiöse Portraits in Blattgold auf vier der Seiten gemalt hatte, um den Wert zu erhöhen. Das Buch ging 1956 in der Erbmasse an die Tochter von Sirieix über, die es 1998 zur Versteigerung bei Christie's aufgab und so wurde es am 29. Oktober für 2 Millionen US-Dollar von einem anonymen Bieter gekauft.
Ende gut ...
William Noel, dem Kurator des Walters Art Museum in Baltimore, ist das weitere Schicksal des Manuskripts zu verdanken. Noel bekundete großes Interesse an einer professionellen Untersuchung und kontaktierte den Mittelsmann des anonymen Bieters mit der Bitte um Einsicht. Seine Mühe führte endlich zum Erfolg und am 19. Januar 1999 überantwortete der Besitzer den Palimpsest der Wissenschaft, der sich mittlerweile in einem erbärmlichen Zustand befand. Noel ordnete umgehend eine Konservierung an und in Folge dessen eine intensive Untersuchung. Die Finanzierung wurde vom Eigentümer vollständig übernommen. Ein Glücksfall, denn der Aufwand der Untersuchungen war beträchtlich und erforderte die Zusammenarbeit mehrerer technischer Institute, die damit beauftragt worden waren, bildgebende Verfahren zu entwickeln, um jedwede noch erhaltene Information wieder sichtbar zu machen. Das Manuskript wurde auf alle erdenklichen Arten und Weisen durchleuchtet und sogar für die Folien, die mit Blattgold übermalt worden waren, fand man zuletzt eine Lösung. Hochfokussierte Röntgenstrahlen brachten die darunter liegende Schrift wieder ans Tageslicht. Insgesamt war man mit der Arbeit nahezu 10 Jahre beschäftigt!
Alles gut?
Es sieht ganz danach aus. Auf der offiziellen Webseite des Projekts kann sich jeder davon überzeugen und via google-books Einblick nehmen. Es sind noch nicht alle Fragen beantwortet und noch nicht jedes Fragment konnte eindeutig lesbar gemacht werden. Immerhin konnte das Buch konserviert werden und steht so nun hoffentlich zukünftigen Untersuchungen ohne weitere Odyssee zur Verfügung. Es wurden sensationelle Entdeckungen gemacht und möglicherweise wird es noch weitere geben.
Wow - hatte ich nix von mitbekommen. Danke - super Beitrag.
Schon wieder solch ein interessanter Artikel von dir - danke dir.
Du hast wohl ein Händchen für offene "Geschichten" hihihi. Spannend. Und warum war es nicht so schlimm, dass die Seite rausgerissen wurde? Habe ich das überlesen?
aufmerksam gelesen, liebe @kadna :-) richtig, die antwort steht noch aus und hier ist sie... aus dem nachlass Tischendorfs ging die seite 1876 in den besitz der universität cambridge über. dort wurde sie sorgsam aufbewahrt. so erlitt sie keinen schaden, was eben den glücksfall darstellt, denn als man 1999 das manuskript untersuchte, stellte man das fehlen mehrerer seiten fest. aber eine davon war nicht verloren. bereits 1968 wurde sie als teil des archimedes-palimpsests identifiziert. lg
Danke für die schnelle Antwort ;-)
Fascinating, exciting & informative!!! Well done lieber @pawos!!!
Ein faszinieredes Thema, sehr unterhaltsam aufbereitet!
Durch das Lesen auf steemit werde ich jeden Tag ein Stückchen schlauer...
Danke!
Sehr spannend! Schade dass diese "Lost Writings" ihr Schicksal im eigenen Namen haben.
Was sonst wenn nicht einen 404 hätte man erwartet wenn man auf "Lost Writings" klickt? :D
http://www.archimedespalimpsest.org/
lieber @remotehorst23, nimm diesen link. ich aktualisiere auch gleich im post.
Wow! Was für eine lange Reise , bis das Manuskript gewürdigt wurde! Und was für ein glücklicher Umstand, dass der heutige Besitzer so einen Fable für historische Aufarbeitung hatte, sonst wäre es wahrscheinlich einfach verrottet.
Danke für den Artikel!
LG, @sabrinaswelt
Sehr schöner Beitrag und sehr interessant. Hatte selbst noch garnichts davon gelesen. Und sehr gut verfasster Beitrag, bitte mehr davon! :)
vielen dank, @eloyy. dein name erinnert mich an die zeitmaschine. einer meiner lieblingsfilm-klassiker. darin spielen zwei völker eine rolle, die morlocks und die eloi. schon gesehen? oldschool, aber nice. über das nächste thema bin ich schon am grübeln. archäologie, schätze und so, das ist interessant. lg
Das ist doch mal was interessante! Das musst eich nicht bisher. Man nimmt ja immer an, das man ein buch blitze Blank neu beschriebt, so wie in der heutigen Zeit wo es mehr Papier wie Verstand gibt. Danke für den tollen Artikel, habe mich durch dich weiter gebildet
Thank you for your continued support of SteemSilverGold