Jura – Das einzige Studium, das den Charakter verändert – Teil 2

in #deutsch7 years ago

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Was fängt man mit einem bestandenen Examen an, auf das man nicht stolz sein kann? Das Durchforsten der Stellenanzeigen brachte mich nicht weiter. Da traf es sich hervorragend, dass ein Freund dringend Hilfe in seinem Kiosk brauchte. Ergo verkaufte ich Zeitschriften, Zigaretten und Lottoscheine. Sinn suchend bin ich in eine andere Welt eingetaucht, froh darum, mir eine kurze Atempause verschafft zu haben.

Mir war aber bewusst, dass das keine Dauerlösung darstellte, weshalb ich meine Optionen abwog. Das Examen zur Notenverbesserung nochmal zu schreiben, erschien mir verrückt. Um aber auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können, brauchte ich dringend Qualifikationen, die über die Lotto-Ausbildung hinausgehen. Schließlich meldete ich mich für das Referendariat an.

Das Referendariat – Lichtblick oder Vollkatastrophe?


Ich bin nach München in eine WG gezogen, weil ich auch den sozialen Aspekt des letzten Ausbildungsabschnitts erleben wollte: spontane Treffen mit den Kollegen, diverse Streifzüge durch die Kneipen des Glockenbachviertels und das Stadtleben an sich.

Zu Beginn hat das Ref eine seltsame Dynamik: Im Studium bleibt man in der Zeiteinteilung komplett frei. Niemand schreibt vor, wann was zu erledigen ist, wann man wo zu sein hat. Jetzt war es wie in der Schule. Man wurde in Arbeitsgemeinschaft zu je 30 Personen eingeteilt. Wir hatten eine AG-Leiterin aka Klassenlehrerin, die uns bemutterte und zugleich forderte, Hausaufgaben aufgab, die sie am nächsten Tag einsammelte. Daran musste man sich erst mal wieder gewöhnen. Daneben waren verschiedenen Stationen zu absolvieren: Zivilgericht, Staatsanwaltschaft, Verwaltungsbehörde, Anwaltskanzlei und eine frei Wählbare. In jeder gab es Präsenzzeiten und Pflichtaufgaben. 

Es ging straff los, die Stoffmenge war schier unfassbar. Man verabschiedete sich vom Gutachtenstil hin zum Urteilsstil, bei dem das Ergebnis voranzustellen ist und fokussiert darauf hingearbeitet wird. Das kam mir und meiner pragmatischen Sichtweise entgegen. Das durch Vergessen geschmälerte materiell-rechtliches Wissen wurde um viel Prozessrechtliches ergänzt. Auch galt es die Formalien der diversen Schriftsätze und Urteile zu erlernen. Die Stoffmenge wuchs schnell an. Neue Rechtsgebiete wie Steuerrecht und Wasserrecht kamen hinzu, andere wurden vertieft. Manches spannend, manches nicht. Eine Erleichterung kam uns zugute: Man durfte Kommentare in den Klausuren benutzen. Das Auswendiglernen hatte ein Ende!

Durch die Stationen lernten wir nach vielen Jahren endlich die praktischen Seiten des juristischen Daseins kennen. Die Staatsanwaltschaft und die Anwaltsstation, die ich bei einem Strafverteidiger absolvierte, waren meine Highlights. Wir durften als Staatsanwälte vor Gericht auftreten, Zeugen befragen und Plädoyers halten. Mein Ausbildungsleiter war als harter Hund bekannt, der schon einigen Referendaren die Eignung für den juristischen Beruf aberkannt hatte. Aber wir verstanden uns gut. Er hat mir mit dem Stoff geholfen und brachte genug Geduld auf, mir manche Themen sehr ausführlich zu erklären. Am Ende der Station lobte und motivierte er mich, mich für den Staatsdienst zu bewerben. Das war das erste Mal, dass ein Jurist meine Fähigkeiten hervorhob. Ich hab mich unglaublich gefreut und fasste Hoffnung, dass sich doch alles zum Guten wenden würde. Auch die Zeit bei dem Strafverteidiger war faszinierend: Besuche im Gefängnis, Vernehmungen in der Staatsanwaltschaft, sogar das Wälzen von Aktenbergen war aufregend. Dort konnte man über den juristischen Tellerrand hinausschauen: Welche Argumentationsgrundlage bilden die medizinischen und psychiatrischen Gutachten? Wie funktioniert die Funkzellenauswertung und wie liest man sie aus? Mir war es egal, dass ich selten vor 22 Uhr das Büro verließ, ich hatte Spaß bei der Arbeit.

Doch der Endspurt kam schnell: 5 Monate vor den schriftlichen Examensprüfungen ging es 24/7 zurück an den Schreibtisch. Eigentlich hatte ich gerade erst begonnen, mich von der Ersten Juristischen Staatsprüfung zu erholen, wieder Spaß an dem, was ich erlernte, zu haben und am Sozialleben teilzunehmen. 

Die folgende Phase war nicht mit der vor dem ersten Examen zu vergleichen. Zwar war die Durchfallquote geringer, aber der Druck ungleich höher. Es kommt nur auf die Note an. Erreicht man nicht mindestens ein befriedigend, muss man den Job nehmen, den man bekommen kann. Die Jobs in Festanstellung im von mir favorisierten Strafrecht kann man an einer Hand abzählen und die Note ist das einzig Ausschlaggebende. Ich lernte wie nie zuvor in meinem Leben. Zwischendurch sah ich dumpfe Youtubeschminkvideos, denn die Angst zu versagen war natürlich wieder da und größer denn je. Dennoch ließ ich mich von ihr nicht mehr lähmen und versuchte, die Stoffmenge in mich hinein zu prügeln. Von Hemmer besorgte ich mir nur noch die Unterlagen. Ich brauchte nicht noch zusätzliche Panikmache und einen freiwilligen Klausurenkurs gab es auch in der Schule. 

Psychisch wurde ich zusehends labiler. Heulkrämpfe und Wutanfälle waren an der Tagesordnung. Ich versuchte, durch Joggen ins Gleichgewicht zu kommen, doch dafür hatte ich keine Nerven mehr. 

Das zweite Examen – am Rande des Wahnsinns


Im Juni 2016 war es soweit: 11 Klausuren à 5 Stunden in zweieinhalb Wochen. In der Zeit übergab ich mich permanent und wenn ich gerade keine Prüfung schrieb, lag ich nur im Bett. Ein Eimer stand immer daneben. In den Klausuren funktionierte ich, Cola, Red Bull und Brezen halfen. Doch dann war es überstanden. Mir war weder zum Weinen noch zum Lachen zumute. Ich ging erst mal in die Badewanne und später auf die Party zum Abschluss der Prüfungen. Viele triumphierten, dass es endlich hinter uns lag. Ich wusste nicht, wie ich dazu stehen sollte, Begeisterung oder gar ein Hochgefühl empfand ich nicht. Aber Zeit darüber nachzudenken hatte ich nicht, denn die Wohnung musste ausgeräumt und an den Vermieter übergeben werden, die Möbel eingelagert; der Umzug nach Wien stand an. Dort verbrachte ich die Wahlstation, die eine Woche nach dem Examen begann. Zeit durchzuatmen blieb nicht. Glücklicherweise hatte ich dort nur 7 Stunden am Tag zu arbeiten, für mehr war ich eh nicht zu gebrauchen. Ich war erschöpft, funktionierte eher bescheiden, aber geistig wirklich anwesend war ich nicht. 

Nach 3 Monaten ging es zurück nach München und es hieß auf die Veröffentlichung der Ergebnisse warten. Diesmal ganz fortschrittlich schon im Internet, also kein Stalken des Postboten mehr notwendig. Die Spannung stieg und erstaunlicherweise habe ich auf Anhieb bestanden. Das Glücksgefühl blieb aber aus. 

Wieder hieß es vorbereiten auf die mündliche Prüfung, für die Anwaltsrecht als neue Materie hinzukam. Diesmal wiederholte und lernte ich mehr. Nachdem die Erste so katastrophal war, wollte ich die Zweite besser absolvieren. Die Atmosphäre in der fünfstündigen Prüfung war wesentlich angenehmer als beim letzten Mal. Die Prüfer freundlicher und fairer in der Benotung.  

Dann war es vorbei und mit Prosecco und Selbstgebranntem von der bulgarischen Oma einer Kollegin wurde ich vor der Tür empfangen.

Psychische Auswirkungen


Die psychische Dauerbelastung während der Ausbildung bringt viele Juristen an ihre Grenzen. Der Druck ist immens. Durch das Erste Examen fielen in meinem Prüfungsjahr 2013 32,04% (Quelle: Bericht des Bayerischen Landesjustizprüfungsamtes für das Jahr 2013). Knapp ein Drittel derjenigen, die bis dahin durchgehalten haben, scheiterten im letzten Moment. Die zurückliegenden 5 - 6 Jahre waren umsonst, viel Zeit und Geld sind verloren. Das wird den Studenten ab dem ersten Semester stets vor Augen geführt. Hinzu kommen, diese netten kleinen Stories, über Anwälte, die sich blamiert haben, sei es durch Unwissenheit oder durch Fristversäumnisse, die Berufshaftpflichtversicherungen an die Grenzen bringen. Angst wird im Übermaß erzeugt.

Im Zweiten Examen ist die Durchfallquote mit 15,43% im Jahr 2016 (Quelle: Bericht des Bayerischen Landesjustizprüfungsamtes für das Jahr 2016) wesentlich geringer, aber es sind rechnerisch dennoch 4 Leute pro AG. Der Notendruck ist zugleich immens höher, da man durch die praktische Arbeit täglich mit der Bedeutsamkeit der Note konfrontiert wird. Allein sie entscheidet, ob sich die Arbeitswelt um den Absolventen reißt oder er es nicht wert ist, eine Absage auf seine Bewerbung zu erhalten.

Zwangsläufig ändert sich die Denkweise. Man fokussiert sich vollkommen auf (juristische) Probleme und trägt das auch ins Private. Man sieht zunehmend nur noch Schwierigkeiten. Es wird immer schwerer abzuschalten und den Moment zu genießen. Anspannung, Panik, innere Unruhe und Schlaflosigkeit sind ein ständiger Begleiter. Entspannung findet man nicht. Heiterkeit wird ein Fremdwort.

Vor meinen Studium war ich jemand, der auf sein Bauchgefühl hörte. Das hab ich mir abtrainiert. Ich kann alles und jeden objektiv betrachten, analysiere lange und versuche sämtliche Aspekte ausgewogen zu berücksichtigen. Aber dadurch verlernt man, auf sich selbst zu hören. Echte Begeisterung währt kurz, denn sofort setzt im Kopf die Analyse ein. Man bildet kein Urteil über etwas oder jemanden, solange man nicht jedwede Fakten kennt - auch wenn es im Bauch längst rumort.

Ich kenne niemanden, der nicht mindestens zeitweise an psychosomatischen Krankheiten leidet: Migräne, Magen-Darm-Beschwerden, Bluthochdruck, Herzrasen gehören bereits im Studium zur Tagesordnung.

Eine Menge Juristen entwickeln Ungeduld bis hin zur Aggressivität gegenüber Mitmenschen. Vereinsamung ist teilweise notwendig, um nicht zu viel Zeit zu vertrödeln. Jahrelang nur die Fehler vor Augen geführt zu bekommen, greift das Selbstwertgefühl an. Man nimmt Kritik persönlich, obwohl sie konstruktiv geäußert wurde.

Ich sehe aber auch, dass manche besser damit zurechtkommen und die haben eines gemeinsam: ihr Fokus liegt nicht nur auf Jura. Sie haben eine weitere Leidenschaft z.B. Segeln, Spielen in einer Band oder haben starken Rückhalt durch die Eltern, den Partner oder den eigenen Kindern. Ihnen wird täglich vor Augen geführt, dass „mehr“ in ihrem Leben existiert als nur Jura. Das vergisst man sonst zu schnell.

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Oh je. Wechsel Österreich - D. Ist das Recht in beiden Ländern gleich? Zivil- und Strafrecht kann ich mir noch vorstellen, aber Verwaltungsrecht sicher weniger, oder?

Es gibt Unterschiede und Parallelen ;)
Strafrecht war kein Problem, da kann man sich auf die angeklagten Straftatbestände vorbereitet. In der Hauptverhandlung konnte ich den Verteidiger auch nur unterstützen, da Referendare dort nicht vor Gericht auftreten dürfen. Im Zivilrecht hatte ich in erster Linie mit Schadensersatzrecht zu tun - die Unterschiede waren auch schnell erfasst. Verwaltungsrecht hat die Kanzlei nicht gemacht. Der deutschen Ausbildung muss man zugute halten, dass man das Handwerkszeug eines Juristen sehr gut erlernt und man sich dadurch schnell in fremde Rechtsgebiete und Rechtssysteme einarbeiten kann.

Man merkt jedenfalls, dass Du Dich mehrfach im Vollwaschgang bei 90° geschleudert fühlst und da noch voll drin steckst ... Aufarbeitung eines Horrortrips :-) Ich hatte mal ne Ex, die studierte auch Jura und stand ständig völlig neben sich. Von daher kenne ich das aus dem Nahkampf ... Ich hab nach meinem Studium fast alles weggeschmissen. Hat Spaß gemacht.

Hab auch alles weggeschmissen, war ein sehr schönes Gefühl :D
Das niederzuschreiben war für mich der Abschluss des Aufarbeitens und jetzt geht's zu neuen Ufern.

Attacke!!

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Thank you very much! @roused

Irgendwie bin ich jetzt deprimiert. Ich lerne gerade fürs 1.staatsexamen