Vielleicht ist es eine ältere Dame, die nicht alleine die Straße überqueren kann, die Kollegin, die völlig überfordert ist, oder ein Kind, das sich verletzt hat und getröstet werden will. Überall um uns herum gibt es Bedarf an Liebe, Aufmerksamkeit und Hilfe.
Die Bereitschaft, anderen etwas Gutes zu tun, zu helfen, aktiv zu handeln, sind die Wurzeln der Nächstenliebe.
by @biako
Was passiert allerdings, wenn urplötzlich alle Menschen einer Stadt erblinden, in einem kleinen Loch eingesperrt werden und es jeden Tag hart auf hart kommt? Hat die Nächstenliebe hier noch einen Stellenwert oder ist sie schon mit dem Verlust ihrer Moral gefährdet? Dabei stellt Blindheit in dem Roman von José Saramagos „Die Stadt der Blinden“ ein Mittel zum Zweck dar.
Wie gesagt, geht es in Saramagos Geschichte um die Blindheit und wie sie eine soziale Gesellschaft zerstören kann. Dies schildert der Autor in seinem Roman, in diesem auf einmal in einer namenlosen Stadt einer nach dem anderen wie aus dem Nichts erblindet. Alle erblindeten Menschen werden in einer alten Irrenanstalt - um weitere Ansteckungen zu verhindern – eingesperrt, wo keine medizinische Versorgung vorgesehen ist und den Blinden nur eine begrenzte Menge an Nahrung zur Verfügung gestellt wird, welche sie sich untereinander aufteilen müssen.
Zunächst helfen sich alle gegenseitig, um gemeinsam über die Runden zu kommen, allerdings kommt es im Laufe der Zeit zu einigen Komplikationen, da Gruppenaktionen nicht mehr weitreichend sind und das tägliche Überleben des Einzelnen im Vordergrund steht. Jeder der Insassen ist auf sich alleine gestellt. Die Blinden haben Angst, dass man sie vielleicht ungerecht behandeln könnte, weswegen sich jeder vordrängen will und keiner mehr Rücksicht auf den anderen nimmt.
Da der Zustrom in diesem Lager immer größer wird, die Menge an Nahrung aber immer knapper, werden als Tauschmittel zunächst Wertsachen gefordert und letzten Endes auch Frauen. Ab hier scheinen die Menschen endgültig ihre Moral verloren zu haben.
Unter all diesen Blinden befindet sich eine sehende Frau, die unbedingt bei ihrem ebenso erblindeten Mann bleiben wollte und deshalb denselben Leidensweg auf sich nahm wie er. Dort gibt sie eigentlich das perfekte Beispiel für Nächstenliebe ab, denn es hat für mich so den Anschein, als wurde sie vom Universum geschickt, um den Blinden eine Richtung zu geben, sie zu leiten und auf sie Acht zu geben. Auch bewegt sie alle anderen zu guten Taten, beispielsweise gibt es da eine Szene, in der die Frauen sich dazu entschließen, sich an die Männer für eine Nacht zu verkaufen, um als Gegenleistung Nahrung für sie und ihren Männern zu bekommen. Sie legen ihren Stolz und ihre Ehre ab, verlieren ihre Moral, indem sie sich von Männern benutzen lassen, um deren Lüsternheit zu stillen. Und das alles nur damit ihre eigenen Männer nicht hungern müssen, „..wir werden Sie ernähren, Sie beide, ich möchte nur wissen, wie Sie sich dann fühlen mit Ihrer Würde, danach, wie Ihnen das Brot dann schmeckt, das wir Ihnen bringen..“ (S.209, Abs. 2)
Am Anfang des Buches wird gezeigt wie Blindheit auch für böse Zwecke ausgenutzt werden kann: Eine Person hilft einem plötzlich erblindeten Mann, indem er dem Blinden in dessen Wagen nach Hause fährt, um so das Vertrauen des Blinden zu gewinnen, dann aber im Richtigen Moment wendet er sich zum Bösen und fährt mit dem Auto des Blinden davon, „Seine Frau kam zurück, nervös, verwirrt, Dein netter kleiner Beschützer, diese gute Seele, hat unser Auto gestohlen,..“ (S.21, Abs. 15)
Für eine soziale Gesellschaft ist Nächstenliebe, meines Erachtens nach, eine Grundvoraussetzung um zu funktioneren und ein Akt der Menschlichkeit. Sie ist notwendig, weil jeder auf jeden angewiesen ist. Damit wir in unserem Leben vorankommen, brauchen wir eben jemanden an unserer Seite, der uns eventuell helfen kann, wenn wir geschwächt sind und keinen Ausweg sehen. Gäbe es keine Nächstenliebe in einer Gesellschaft, würde sie zusammenfallen.
Nächstenliebe heißt im Lateinischen „caritas“ und diesen Namen trägt auch eine soziale Hilfsorganisation, die Menschen in Notlagen hilft, ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer Religion oder ihres Geschlechts.
Einzelne Personen können ebenso Nächstenliebe praktizieren, auch wenn es nur kleine Gesten sind. Allerdings glaube ich, dass man seinen Nächsten nur dann lieben kann, wenn man sich selbst liebt und akzeptiert, denn Menschen, die unzufrieden mit sich sind, möchten nicht, dass es anderen besser geht als ihnen.
Nur, wenn man mit dem Universum im Reinen ist, hat man Frieden mit sich selbst und nur so hat man auch Mitgefühl für die anderen und möchte, dass es auch allen anderen gut geht.
Ein sehr empfehlenswertes Buch, das ich nur jedem ans Herz legen kann.