Industrieland, Schwellenland, Entwicklungsland - wo steht Russland?

Immer wieder hört man in den Medien, dass Russland seinen alten Status als Supermacht verloren hat und nur mehr in einer nostalgischen Blase lebt, dass außerhalb Moskaus und Sankt Petersburgs die Lebensumstände denen eines Schwellenlands (und manchmal auch denen eines Entwicklungslands) gleichen und dass es angesichts der viel kritisierten politischen Lage nicht viel Aussicht auf rasche Besserung gibt.
Was stimmt davon und was nicht? Nun, darüber soll der folgende Beitrag zumindest ein bisschen aufklären.

Zunächst einmal etwas zum Thema "Russland als Regionalmacht": Ja, tatsächlich ist es so, dass Russland nicht seinem vollen Potenzial gerecht wird. Das liegt bis zum heutigen Tag zu einem gewissen Grad am Zerfall der Sowjetunion. In dem politischen Chaos jener Zeit kam Boris Jelzin an die Macht, welcher sich, milde ausgedrückt, als sehr inkompetent erwies und Russland nicht auf einen positiven Kurs brachte. Die Privatisierung der Wirtschaft lief katastrophal, die Politik scherte sich nicht darum und schon bald verwandelte sich die ehemalige Supermacht in ein regelrechtes Pulverfass. Es kam sogar die Idee auf, Sibirien im Stil von Alaska an die USA zu verkaufen! (Natürlich wäre damit eine entsprechende Menge an Komplikationen für beide Seiten entstanden, aber wer dazu mehr wissen will, kann als Einstieg diesen archivierten Artikel aus dem Jahr 1999 lesen.) 

Heute jedoch ist die Lage eine andere: Die Situation Russlands ist wesentlich besser geworden, auch wenn sie bei weitem nicht mit westeuropäischen Ländern wie Österreich zu vergleichen ist. Was etwa den Lebensstandard betrifft, so hat sich seit der Jahrtausendwende vieles verbessert, aber es ist keineswegs die Art von Situation, mit der man sich zufriedenstellen sollte. Beim pro-Kopf BIP zum Beispiel rangiert Russland (je nach Quelle) ungefähr auf der Höhe von Kroatien und Griechenland, jedoch hinter Ungarn und Polen. Zudem liegt die Lebenserwartung bei knapp 71 Jahren laut russischen Statistiken, was allerdings immer noch niedriger ist als in Ländern wie China und Venezuela.

Norilsk. Es ist die am meisten verschmutzte Stadt Russlands und hat eine Lebenserwartung die bis zu 10 Jahre unter dem russischen Durchschnitt liegt.

An dieser Stelle gehört dazugesagt, dass solche Statistiken über Russland oft als Zeichen der Schwäche des Landes als Ganzes gesehen werden. Eines möchte ich dazu klarstellen: selbstverständlich ist es kein Zeichen der Stärke, wenn es z.B. fast genauso viele Abtreibungen wie Geburten gibt, oder dass etwa eine Million Russen an AIDS leiden. Allerdings muss man sich auch der Tatsache bewusst sein, dass die Lebenslage in Russland in den vergangenen Jahren immer besser wurde (diese Tatsache hat auch der YouTube-Kanal 1791L, den ich sehr interessant finde, in seinem Video zum Thema Russland ausgelassen). Im Moment ist innerhalb Russlands einiges im Gange, was die Situation endgültig zum Besseren kippen dürfte. 

So gibt es beispielsweise unzählige Jugendliche, die ihr überdurchschnittliches Talent für Computer- und Maschinentechnologie zur Schau stellen (bei internationalen Programmierwettbewerben sind es immer wieder russische Teams, die Weltmeister werden) und dieses auch für Startup-Unternehmen nutzen. Außerdem scheint sich die lange ersehnte Diversifizierung der Exportgüter und somit das Ende der Öl-Abhängigkeit anzubahnen (was nicht zuletzt aufgrund der Sanktionen gegen das Land passiert).

Sotschi ist vor allem aufgrund seines Status als Tourismusort eine der modernsten und grünsten russischen Städte.

Zur eigentlichen Frage, zu welcher Gruppe denn nun eigentlich Russland zählt: Russland ist einfach nur Russland könnte man sagen. Die Unterschiede zwischen den Regionen kommen manchmal denen von Klimazonen gleich (von denen es übrigens alle in Russland gibt, bis auf die Tropen) und das Land hat eine schwere Zeit hinter sich, von der es sich aber gut zu erholen scheint. Trotz der Schwierigkeiten schaut das Land nach vorne und die russiche Bevölkerung hat allen Grund, auf ihr Land stolz zu sein!

Eine wahrscheinlich unumgängliche Bedingung dafür, dass ein guter Kurs auch weiter eingeschlagen wird, ist jedoch die Politik. In einem System wie dem russischen, wo das Staatsoberhaupt eine sehr mächtige Position hat (und das auch, wenn man Putins überwältigende Beliebtheit rausnimmt), ist es sehr wichtig, wer diese Rolle einnimmt. Bei den Wahlen 2018 dürfte Wladimir Putin wohl gewinnen, doch es stellt sich die Frage, wer seine Nachfolge antritt (ein Thema, das ich in einem zukünftigen Beitrag behandeln möchte).